1 From: Boris Kraut <krt@nurfuerspam.de>
\r
3 Date: Fri, 06 May 2011 13:04:58 +0200
\r
5 Message-ID: <20110506110458.oEHdLU@silberbruch>
\r
8 To: undisclosed-recipients: ;
\r
9 Subject: Aus dem Brief an einen Dozenten
\r
11 Sehr geehrter [...],
\r
13 nach nun einer ganzen Weile, die ich an der PH Karlsruhe studiert
\r
14 habe, ist es wohl an der Zeit Ihnen mal einige Zeilen zu schreiben.
\r
15 Dieser Brief sollte nicht als Angriff auf Sie persoenlich oder gar
\r
16 auf die Institution verstanden werden, sondern eher als Erfahrungs-
\r
17 nericht, als Einblick in die Gedankenwelt eines Studierenden, ja,
\r
18 vielleicht sogar als Anregung.
\r
20 Ich persoenlich halte Klausuren, die darauf ausgelegt sind innerhalb
\r
21 von kurzer Zeit, beispielsweise 90 Minuten, moeglichst viel gelerntes
\r
22 Wissen -- in wie weit es erlernt wurde, bleibt auch nach dem "Bestehen"
\r
23 fragwuerdig -- wiederzugeben, wozu trotz zahlreicher Verbesserungen
\r
24 in diesem Jahr leider auch mal wieder die Paedagogik-Klausur zaehlte,
\r
25 fuer tendenziell inhuman.
\r
27 Die angesprochenen Veraenderungen machten es zudem den Wiederholern,
\r
28 die schon einmal von der Klausur enttaeuscht wurden, zusaetzlich
\r
29 schwer, denn die Struktur der Aufgaben, die man ja zu kennen glaubte,
\r
30 hat sich doch stark veraendert. Die Vorbereitung erfolgte also auf
\r
31 eine Klausur, die es in dieser Form nicht gab. Ich bin mir sicher,
\r
32 dass viele Wiederholer die jetzige Klausur vor einem Semester ohne
\r
33 Probleme haetten bewaeltigen koennen und umgekehrt die aktuelle
\r
34 Klausur deutlich besser bestehen haetten koennen, wenn sie ihre
\r
35 Vorbereitung nicht an die Erfahrungen angepasst haetten.
\r
37 Inhuman, das ist sicherlich ein Schlag ins Gesicht fuer jeden
\r
38 Paedagogen, der sich doch sehr seinem humanistischen Menschenbild
\r
39 verschrieben hat. Lassen Sie es mich erklaeren:
\r
41 Wiedergeben, Teilen, ja, das Kopieren von Wissen und Werten, ist
\r
42 einer der Pfeiler, auf denen unserer Kultur fusst und -- dieser
\r
43 kleine Exkurs sei mir als Informatiker gestattet -- kann niemals
\r
44 ein Verbrechen sein, auch wenn das einige Leute der so genannten
\r
45 Verwetungsgesellschaften behaupten. Oder, um es mal positiv zu
\r
46 formulieren: Kopieren ist gut, wenn auch gleich die Gefahr besteht,
\r
47 damit diese Kulturgueter "wertlos" zu machen; aber worin liegt
\r
48 deren Wert? In der Leistung der Vervielfaeltigung oder in jener
\r
49 Leistung, die der Autor erbringt, im Denken, im Schaffen von
\r
50 Originalen? Und noch weiter: Der Wert wird nicht nur von diesen
\r
51 Vordenkern erzeugt, denn jeder "geniale" Gedanke ist ein Samen,
\r
52 doch erst wenn er in jedem von uns aufgehrt, entfaltet er seine
\r
53 wahre Schoenheit und Wichtigkeit. In diesem Zuge mag ich an das
\r
54 gefluegelte Wort der "Deutschen als Volk der Dichter und Denker"
\r
55 erinnern. Ist ein Volk dank seiner herausragenden Denker diesem
\r
56 "Titel" wuerdig? Oder lag es daran, dass das unheitliche und
\r
57 teilweise nicht existente "Urheberrecht" Schwarzdrucke der
\r
58 grossen Denker erlaubte und dieses Wissen daher einer grossen
\r
59 Zahl an Menschen kostenguenstig zur Verfuegung stand? Der Wert
\r
60 des Wissens waechst je billiger dessen Vervielfaeltigung und
\r
63 Techniker gaben uns die Moeglichkeit dies alles kostenlos zu
\r
64 tun, was keine Verwertungsgesellschaft unterbieten kann. Wir
\r
65 sollten diese Moeglichkeit nutzen. Jetzt. Tun wir dies nicht,
\r
66 so bekennen wir uns schuldig am Niedergang der Menschheit.
\r
70 Wie gesagt, dass Kopieren von Wissen ist ein zentraler Schritt
\r
71 im Werdegang der Menschheit, doch wir haben schon relativ frueh
\r
72 damit begonnen, diesen Schritt auszulagern: Mit der Erfindung
\r
73 von Schrift, von Buchdruck oder, wie in juengster Zeit, von
\r
74 digitalen Speicher- und Vervielfaeltigungstechnik. Es kann daher
\r
75 nicht mehr Aufgabe des Menschen sein, Wissen exakt wiedergeben
\r
76 zu koennen, die dadurch gebundenen Ressourcen muessen viel mehr
\r
77 frei gemacht werden, damit man sie fuer weiteren Fortschritt der
\r
78 Menschheit einsetzen kann.
\r
80 Das bedeutet aber nicht, dass einmal fixiertes Wissen nur noch
\r
81 konserviert werden soll, denn es ist ja gerade sehr wichtig, dass
\r
82 man iest, dass man hoert, dass man das Geschrieben durchdenkt --
\r
83 oder gar neu denkt. Diese in einem positiven Sinne "Reproduktion"
\r
84 von Wissen, das "erneute Hinfuehren des Geistes auf ein Ziel" als
\r
85 eigenes Durchlaufen der schon vorhandenen Gedankengeaenge und das
\r
86 Verstehen von historischen Zusammenhaengen ist wichtig und meiner
\r
87 Meinung nach unerlaesslich, um damit die Grundlage von eigenem,
\r
88 neuem Denken, Wissen, Fuehlen zu legen. Doch dieser Schritt erfolgt
\r
89 waehrend des ganzen Studiums (und Lebens!) oder -- um es zeitlich
\r
90 naeher zu fassen -- innerhalb des Semesters und eben nicht am Ende
\r
91 in einer Klausur, die das reine Auskotzen von unverdautem Wissen,
\r
92 oder besser "leblosen Stoff", darstellt.
\r
94 Ich moechte Ihnen eigentlich keine Vorwuerfe machen, denn ich bin
\r
95 mir durchaus bewusst, dass es nicht leicht ist sich gemaess seines
\r
96 eigenen paedagogischen Masstabes zu verhalten, wenn man den Zwaengen
\r
97 von Studien- und Pruefungsordnung unterworfen ist und die Gesellschaft
\r
98 die schnelle und "faire" Abfertigung, Ausbildung der Massen an
\r
99 Studierenden gewaehrleisten soll, wo man eigentlich die lebenslange
\r
100 Bildung anstossen will.
\r
102 Trotzdem muss ich doch klar sagen, dass diese Klausur eigentlich
\r
103 nicht dem entspricht, was Sie lehren -- oder zumindest nicht dem was
\r
104 ich glaube davon verstanden zu haben. Vielleicht waere ein wenig mehr
\r
105 Wahrhaftigkeit richtig, denn man sollte doch auch leben, was man
\r
106 lehrt, oder sind Sie selbst in der paedagogischen Praxis gescheitert?
\r
108 Wie ich sagte, dies ist weniger ein an Sie gerichteter Vorwurf, eher
\r
109 geht dies in Richtung der gesamten Bildungspolitik. Der Besuch einer
\r
110 HochSCHULE -- den Begriff Studium moechte ich hier in diesem Zusammen-
\r
111 hang eher nicht nennen -- ist nach all meinen Erfahrungen inzwischen
\r
112 darauf ausgerichtet, der breiten Masse der Studenten einen Abschluss
\r
113 zu ermoeglichen. Dies ist natuerlich nicht schlecht, damit dieser
\r
114 Moeglichkeit auch die des eigentlichen Studiums fuer (nahezu) jeden
\r
115 eroeffnet wird. Leider erdruecken einige der Regeln und Ordnungen
\r
116 Dozenten wie auch Studenten und es ist schmerzlich zu sehen, dass
\r
117 viele, durchaus nicht schlechte, vielleicht sogar teilweise sehr
\r
118 gute Studenten daran verzweifeln und scheitern. Auch Immanuel Kant
\r
119 sagte ja schon, dass der "Gaengelwagen der Regeln" die Genies
\r
120 verderbe. Ob sich die Gesellschaft wirklich einen solchen Verlust
\r
121 leisten kann, wage ich zu bezweifeln, aber diese Entscheidungen
\r
122 steht anderen zu. Doch eine Frage bleibt: Koennen Sie selbst das
\r
123 verantworten, dazu beigetragen zu haben?
\r
127 Was auch immer sie mit dieser Klausur bezwecken wollten, Sie sind
\r
projects / krt-msg / blob