1 From: Boris Kraut <krt@nurfuerspam.de>
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3 Date: Sat, 25 Aug 2012 02:45:26 +0200
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5 Message-ID: <20120825004526.X6SsvT@silberbruch>
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8 To: undisclosed-recipients: ;
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9 Subject: Stillstand (Teil2)
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11 Am Anfang des letzten Semesters, habe ich meinen studientechnischen
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12 Stillstand angeprangert und das als Antrieb genommen, etwas daran
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13 zu aendern -- wenn auch wenig, aber die Richtung stimmt. Im zweiten
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14 Teil geht es um einen -- oder doch zwei? -- eher sozialen Still-
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15 stand, der mich etwas betruebt. Auch diesmal ist das Schreiben (und
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16 in gewisser Massen auch das Schreiben allein) ein Schritt zur Ver-
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17 besserung der Situation.
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19 Bevor ich den Artikel Stillstand verfasst habe, zitierte ich Vaclav
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20 Havel mit seinem bekannten "Wahrheit und Liebe muessen siegen ueber
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21 Luege und Hass" Mantra. Es soll hier als eine Art Leitfaden dienen.
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26 Die meisten duerften wissen, dass ich Wahrheit und Ehrlichkeit fuer
\r
27 ein sehr hohes Gut halte. Ich versuche natuerlich auch so weit es
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28 geht auch nach diesen Werten zu leben. Doch was ist eigentlich die
\r
29 Wahrheit? Gibt es die eine objektive Wahrheit?
\r
31 Vermutlich schon, aber das was Menschen gemeinhin als Wahrheit be-
\r
32 zeichnen, ist doch zu tiefst individuell. Es ist nicht das, was ist,
\r
33 sondern das, was wir "wahr"-nehmen -- und unsere Wahrnehmung ist ja
\r
34 bekanntlich sehr subjektiv, die Nutzung der verschiedenen Sinne ist
\r
35 bei den meisten Menschen ganz unterschiedlich ausgepraegt:
\r
37 Zu aller erst muss klar sein, dass sich die jeweiligen Sinnesorgane
\r
38 zwischen den Menschen in ihrer Leistungsfaehigkeit unterscheiden.
\r
39 Wir sind von Geburt auf anders und im Laufe des Lebens veraendert
\r
40 sich auch unser Koeper. Junge koennen andere Tonlagen hoeren als
\r
41 aeltere Leute, mancher braucht von Klein auf eine Brille und wieder
\r
42 andere koennen nur ganz eingeschraenkt Geschmaecke wahrnehmen.
\r
44 Neben diesen rein funktionalen Unterschieden, kommt es natuerlich
\r
45 immer darauf an, was man aus den Gegebenheiten macht: Die Sinne
\r
46 muessen trainiert werden, man muss lernen sie zu nutzen. Gerade
\r
47 wenn einem Sinne "ausfallen" versucht man haeufig diesen Verlust
\r
48 ueber eine aussergewoehnlich der verbleibenden zu kompensieren.
\r
50 Ein weiterer Punkt der Individualisierung unserer Wahrnehmung ist
\r
51 das Offensichtliche: Wir entscheiden selbst, wohin wir schauen,
\r
52 welche Klaenge wir ausblenden, auf was wir uns konzentrieren.
\r
54 Selbst wenn wir alle drei genannten Punkte ausblenden ist noch
\r
55 ein weiterer Faktor vorhanden, der unser Wahrheit zu etwas sehr
\r
56 persoenlichem macht: Vorwissen. Alle Informationen muessen nicht
\r
57 nur aufgenommen werden, sondern auch verarbeitet werden. Das ge-
\r
58 schieht unter massiven zur Hilfenahme durch das bereits Erlebte,
\r
59 Erlernte oder auch Vermutete. Und diese Intepretation von Daten
\r
60 ist es, die es uns so schwer macht eine objektive Wahrheit zu
\r
63 Hier ist noch ein weiterer Punkt von Einfluss: Unser Gehirn ist
\r
64 nicht verlaesslich, wir koennen uns selbst nicht trauen! Nicht
\r
65 nur, dass wir zwangslaeufig vergessen, nein, sowohl neue Reize
\r
66 wie auch vergangene Ereignisse werden umgestaltet, verworfen oder
\r
67 ignoriert. Unterbewusst ist man staendig damit beschaeftigt,
\r
68 alles in einem fuer einen selbst plausiblen und positiven Rahmen
\r
69 zu zwaengen (siehe. kognitive Dissonanz). Passt eine frische
\r
70 Information nicht zum eigenen Weltbild? Sie muss ja entweder
\r
71 falsch sein, wird also einfach vergessen und verdraengt, oder
\r
72 es ist gar eine absichtliche Luege. Warum luegt der andere?
\r
73 [...] Was eigentlich eine Schutzfunktion sein soll (und ist),
\r
74 kann auch sehr negative Folgen fuer uns haben und das Zusammen-
\r
75 leben unnoetig erschweren.
\r
77 Gerade das einordnen in einen kausalen Zusammenhang, also weg
\r
78 von der Sacheben hin zur Frage, warum mein Gegebueber so handelt
\r
79 und nicht anders, ist kaum zu loesen. Es gibt zwar Anhaltspunkte
\r
80 oder man kann teilweise auf Erfahrungswerte zurueckgreifen, gerade
\r
81 wenn man eine Person laenger kennt, aber defacto haben wir keine
\r
82 Moeglichkeit zu "wissen", wir koennen nur vermuten und erahnen.
\r
84 Das ganze ist ein hyperkomplexes System mit vielen Unbekannten
\r
85 die sich noch gegenseitig bedingen. Wir koennen nicht objektiv
\r
88 Ich selbst versuche mit diesem Widerspruch so gut es geht zu leben
\r
89 und trotzdem die Wahrheit als Wert hochzuhalten. Manchmal hat das
\r
90 negative Folgen, weil man zwangslaeufig direkter wird und viele
\r
91 Menschen shclecht mit Direktheit umgehen koennen bzw. sie es nicht
\r
92 gewohnt sind. Man gilt als unfreundlich, weil man sich an die
\r
93 sozialen Regeln der Gesellschaft haelt. Sowas sagt man doch nicht!
\r
98 Aber ganz egal, wie sehr man sich bemueht, man schafft es nicht
\r
99 komplett danach zu leben. Und auch wenn "die Wahrheit" fuer uns
\r
100 Menschen gar nicht feststellbar ist, so schafft man es nicht mal
\r
101 nach seiner eigenen, ganz persoenlichen Wahrheit zu leben. Man
\r
102 luegt so oft, mehrmals am Tag -- im Durchschnitt luegt jeder Mensch
\r
103 wohl ca. 200 Mal am Tag. Viele davon sind natuerlich unbewusste
\r
104 Luegen, kleine "Notluegen" oder sozial anerkannte Luegen aus
\r
105 Hoeflichkeit (vgl. Direktheit), aber auch richtig dicke Klopper
\r
108 Ich selbst versuche Luegen zwar zu vermeiden oder zumindest im
\r
109 Nachhinein klarzustellen bzw. zu korrigieren -- auch wenn es
\r
110 haeufig peinlich ist -- aber das ist gerade bei den kleinen
\r
111 Alltagsluegen nicht besonders erfolgsversprechend. Ruft man
\r
112 zurueck, wenn man sich mal wieder an der Tuer ode ram Telefon
\r
113 verleugnen lassen hat? Wie sieht das im Chat aus, wenn man sich mal
\r
114 wieder afk meldet, um nicht (von bestimmten Personen) genervt zu
\r
115 werden, aber gleichzeitg mit anderen schreibt?
\r
117 Im letzteren Fall waere die Alternativ lieber nichts zu sagen und
\r
118 das "Nichtssagen" ist auch in der echten Welt eine Moeglichkeit, um
\r
119 einer Luege aus dem Weg zu gehen. Aber ist es wirklich besser?
\r
120 Waere eine ehrlich, aber ggf. abweisende Antwort nicht fuer einen
\r
121 selbst (und auch fuer die Gesellschaft) am besten und wertvollsten?
\r
123 Das Problem von Luegen sind ihre nicht kalkulierbaren Folgen. Nicht
\r
124 nur, dass andere dann aufgrund der Unwahrheit falsche Entscheidungen
\r
125 treffen, auch man selbst wird ja von diesen Entscheidungen weiter
\r
126 beeinflusst und verfolgt. Und gerade diese Rueckbezuege sind sehr
\r
127 gefaehrlich, da man ja dort immer im Kontext der Luege denken und
\r
128 handeln muss, um konsistent zu bleiben. Dabei faellt sowohl das
\r
129 aktive Erinnern an die jeweilige Luege (und deren Wortlaut) schwer,
\r
130 denn das muss ja zusaetzlich zur "Wahrheit" passieren. Zudem ist
\r
131 das sichere Bewegen im Kontext einer Luege extrem anfaellig: Man
\r
132 wird haeufig dazu genoetigt schnell Antworten zu muessen, was meist
\r
133 durch eine neue Folgeluege passiert -- es ist also eine Art Schnee-
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134 ballsystem. Ausserdem muss man nicht nur aufpassen, in welchem
\r
135 Kontext man sich selbst bewegt, sondern auch in welchem die Um-
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136 welt gerade ist. Besonders gefaehrlich ist es, wenn sich die Kon-
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137 texte ueberschneiden, wenn also zum Beispiel Personengruppen (zu-
\r
138 faellig) ueberschneiden.
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140 Ein weiteres Problem bei Luegen ist, dass man sich teilweise so in
\r
141 eigene Luegenwelt hineinversetzt, dass man diese selbst anfaengt zu
\r
142 glauben. Wie oben beschrieben, ist das Gehirn gerne bereit die
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143 Informationen, die nicht in das Weltbild passen, zu ignorieren oder
\r
144 sehr rkeativ in dieses zu integrieren. Dabei kann dieses Weltbild
\r
145 durchaus auch auf einer oder mehreren Luegen aufgebaut sein. Diese
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146 Art der Realitaetsverweigerung kann von simplen Notkunstrukten, die
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147 dazu dienen sich und sein Leben vor sich selbst zu rechtfertigen
\r
148 bzw. angenhemer zu machen, bis hinzu einer krankhfaten Stoerung
\r
151 In meinem konkreten Fall geht es nicht um die vielen Alltagsluegen,
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152 sondern um eine fuer andere unbedeutende, aber fuer mich selbst um
\r
153 so relevantere Fundamentalluege.
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158 Ueber Liebe habe ich ja schon an anderer Stelle geschrieben, von
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159 daher beschraenke ich mich hier auf einen einzigen, persoenlichen
\r
160 Aspekt -- Liebe und Luege:
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162 Ich bin 27 Jahre. Jungfrau. Ungekuesst.
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164 Ich hoere schon den Aufschrei, aber fuer mich ist das an sich kein
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165 Problem. Was mich wirklich bedrueckt ist der fehlende -- bzw. sehr
\r
166 eingeschraenkte -- soziale Kontakt. Daran arbeite ich, an mir
\r
167 arbeite ich. Woran ich aber nicht mehr arbeiten wollte und konnte
\r
170 Wer kennt es denn nicht? Die bohrenden Fragen auf dem Familien-
\r
171 fest. Das Getuschel ueber schwul oder asexuell. Es hat mir ge-
\r
172 reicht, schon damals in der Schule. Wisst ihr wie schwer es ist
\r
173 die Pubertaet (die iegene war nicht so schlimm, eher die der
\r
174 anderen!) durchzumachen ohne eine Freundin? Waehrend alle anderen
\r
175 von ihren ersten Erfahrungen erzaehlen und rumproleten, von Liebe
\r
176 schwafeln und dabei Verliebtheit und Sex meinen, ist man immer
\r
177 nur zu hoerer. Nicht dass ich mich mit einer Freundin grossartig
\r
178 anders verhalten haette, es gibt einfach Dinge, die man nicht
\r
179 unbedingt in der Oeffentlichkeit kommunizieren muss -- dass ich
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180 das hier gerade schreibe, ist "schlimm" genug, aber ein Weg mit
\r
181 der Vergangenheit aufzuraeumen, Klarschiff zu machen. Auch das
\r
182 Studium oder die Arbeit -- gerade in einem doch sehr maenner-
\r
183 lastigen Beruf mit all seinen Schwanzvergleichen, sexuell-
\r
184 anzueglichen Kommentaren usw. -- machen in einer so hoch-
\r
185 sexualisierten Gesellschaft als AB, Absoluter Beginner bzw. Mensch
\r
186 ohne Beziehungserfahrung, wie einige "von uns" sich nennen, wenig
\r
189 Man beginnt Ausreden zu erfinden, stellt normale Kontakte ueber-
\r
190 hoeht, Hoffnungen und Wuensche als Fakt dar. Das Gehirn schafft
\r
191 sich eine Welt aus Luegen und erklaert sie vor sich selbst und
\r
192 anderen als Wahrheit. Man will einfach nicht weiter ausserhalb
\r
193 stehen. Es tut mir Leid.
\r
195 Wie gesagt, die Belastung ist weniger das koerperliche, sondern
\r
196 eher das soziale. Niemanden zu finden, der mich versteht oder
\r
197 der mich aufbaut, in den Arm nimmt, unterstuetzt, eben genau dann,
\r
198 wenn er mich nicht versteht oder zumindest nicht meine Meinung
\r
199 teilt. Ich denke damit ist hier genug, wahrscheinlich sogar zu
\r
200 viel, gesagt. Alles weitere gehoert nicht in diesen Kontext.
\r
205 Zum Hass kann ich am wenigsten sagen, denn entgegen des allgemeinen
\r
206 Sprachgebrauchs, der haeufig von "Hass" spricht, hat man -- oder
\r
207 zumindest ich -- es meist eher mit ungerichteter Wut oder ziel-
\r
208 gerichtetem Zorn zu tun. Echten Hass habe ich selten. Es gibt viele
\r
209 Dinge die mir nicht passen, Menschen die komplett entgegengesetzte
\r
210 Werte vertreten, ja, die ich sogar verachte und verabscheue. Aber
\r
211 Hass? Nein, nicht wirklich. Wenn ich an den arabischen Raum denke,
\r
212 wenn ich an Fundamentalisten, an Extremisten denke, da kommt der
\r
213 Hass dann eher ins Spiel, aber da man davon nicht direkt und taeg-
\r
214 lich betroffen ist, entwickelt sich der Hass nicht.. wollen wir
\r
215 hoffen, dass es nicht auch hier bald mehr Grund fuer Hass gibt.
\r
218 Worum ging es hier also? Den Stillstand auf dem Gebiet der "Wahr-
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219 heit" bzw. "Luege" habe ich jetzt hoffentlich hier durchbrochen.
\r
220 Mit der Offenlegung der letzten "grossen Luege" will ich auch
\r
221 gleich einen weiteren Anlauf nehmen, generell wieder etwas direkter
\r
222 zu werden: Nachdem ich eine Zeit lang versucht habe, mich etwas
\r
223 den "sozialen Regeln" anzupassen oder sie zumindest heraus zu
\r
224 finden, werde ich ab jetzt langsam wieder auf das alte Konzept
\r
225 umsatteln, Probleme und Wuensche direkt zu kommunizieren.
\r
227 Der zweite Stillstand, also der im Bereich von sozialer Inter-
\r
228 aktion bzw. gar Berziehung ist weniger einfach zu aendern,
\r
229 aber ich werde auch hier nicht aufgeben und weiterhin meinen
\r
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