From: Boris Kraut Date: Sun, 12 Jul 2009 20:50:49 +0000 Category: Sender: Message-ID: <20090712225049.90rD8R@silberbruch> References: Keywords: Comments: To: undisclosed-recipients: ; Subject: Demokratie am Scheideweg Wenn man nach einer Definition von Demokratie fragt, erhaelt man erstaunlich oft die nette Uebersetzung "Das Volk herrscht." zu hoeren. Das ist natuerlich ausgemachter Bloedsinn. Das Volk selbst ist immer das beherrscht Objekt. Der oder die Herrscher muessen dabei nicht unbedingt aus dem Volk kommen, sind es aber oft. In einem Extremfall kann es natuerlich durchaus sein, dass das Volk von einer ganzen Masse regiert wird, die identisch mit dem Volk ist; es sind aber dennoch zwei unterschiedliche Entitaeten. Betrachtet man die Herkunft des Wortes Demokratie naeher, so ergibt sich ein deutlich passenderer Sinn: demos kratein - das Volk ist stark [vgl. Schachtscheider und Glaeser]. Es wird zwar beherrscht, hat aber sehr viel Macht, zum Beispiel die Macht, seinen Herrscher (teilweise aus den eigenen Reihen) selbst zu bestimmen. Gerade auf dieser missverstaendlichen Uebersetzung stuetzen sich viele Leute, die mehr direkter Demokratie einfordern. Sie vergessen dabei, dass sich unsere Gruendervaeter damals aufgrund unserer Vergangenheit explizit fuer ein in dieser Hinsicht sehr konservatives Modell entschieden haben. Wer haeufiger im Internet unterwegs ist, wird schon mehrfach erlebt haben, wie schnell ganze Menschenmassen unreflektiert Meinungen uebernehmen und teils massiven Schaden anrichten koennen; ein weiteres Beispiel aus der realen Welt sind die vor Populismus triefenden Hetzkampagnen diverser "Zeitungen". Man wird kurzfristige Ereignisse oder emotionale Reaktion bei Wahlen nie ganz raushalten koennen, aber wir sollten uns davor in Acht nehmen, zu schnell der "Weisheit der Massen" zu vertrauen. Ich moechte mich hier explizit nicht als Gegner von mehr direkt- demokratischen Elementen betrachtet sehen, nur als jemand, der vorschnelle Forderungen vor ihrer Umsetzung gerne genauer unter die Lupe nehmen wuerde. Es gibt durchaus gute Argumente dafuer und auch einige positive Beispiele. Nur muss das, was in der Schweiz funktioniert, nicht in einem bevoelkerungsreichen Flaechenstaat wie Deutschland funktionieren. Und es ist ja nicht so, dass die Schweiz gegen all unsere Probleme gefeit ist. Allerdings sollte jedem meiner Leser klar sein, dass ich mit der derzeitigen politischen Situation in Deutschland alles andere als zufrieden bin; ganz im Gegenteil, es zerreist mir eher das Herz! Machtgeile, inkompetente Politiker, die sich vom Volk zu sehr entfernt haben, entscheiden ueber ihre eigene Bereicherung und Themen die sie nicht verstehen - ich nehme hier zu ihrem eigenen Schutz Unkenntnis an, denn ich hoffe nicht, dass sie sich gewollt verfassungswidrig verhalten; das Parlament tagt in einer Plenarsitzung bis nach Mitternacht, aber fast alle Reden werden nur zu Protokoll gegeben.. Anmerkung: Ja, ich weiss, dass Deutschland ein "Arbeits- Parlament" hat und kein "Rede-Parlament", aber der Wortstamm bedeutet nunmal "reden". Wobei ich mir durchaus auch bewusst bin, dass das Reden ein zweischneidiges Schwert ist. Mit Rhetorik - die nicht ohne Grund schon bei den Griechen und Roemern fuer einen Politiker zum Handwerkszeug gehoerte - und einer charismatischen Ausstrahlung kann man sowohl Ueberzeugen, wenn der Gegner die rationalen Argumente nicht versteht, als auch, wenn man gar keine Argumente hat. ..und auf die Verfassung vereidigte Minister wagen es, dem Bundesverfassungsgericht nach einer Entscheidung die Kompetenz abzusprechen. All das geschieht und abgesehen von einer stetig wachsenden Minderheit an Protestlern interessiert es keinen. Und ihr wollt wirklich mehr direkte Demokratie? Ich schweife ab... Worauf ich eigentlich hinaus wollte ist die Frage, ob die Demokratie hierzulande zur Demokratur geworden ist. Nun, wie ich oben schon sagte, gibt es vieles was schief laeuft und ich bin manchmal den Traenen nahe. Aber vielleicht steht es gar nicht so schlimm um das System? Auch wenn die politische Fuehrung fleissig am Abbau unserer Rechte arbeitet und uns verraten hat, so sind wir trotzdem noch da. Wir kaempfen fuer unsere Rechte. Wir vertreten oeffentlich unsere Meinungen. Wir lassen uns nicht unterkriegen oder einschuechtern. Und vielleicht sind genau wir, die Menschen, die Buerger, die Bevoelkerung der Unterschied, der eine Demokratie von anderen Regierungsformen abhebt. Eine Demokratie ist nicht die saubere Loesung fuer alle Probleme, aber sie ist ein verdammt guter Schritt in die richtig Richtung. In einer Demokratie gibt es auch dunkle Zeiten und schmutzige Ecken; der Pluralismus erlaubt ja gerade mehrer Meinungen, gute, weniger gute und auch abgrundtief schlechte, wie auch Altkanzler Helmut Schmidt weiss: > Eine Vielfalt an Meinungen und Urteilen - auch Vorurteilen - > ist gerade ein Zeichen von Demokratie. Eine Demokratie erlaubt uns auch diese Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs, in denen sich eine schwere Kluft zwischen der Bevoelkerung auftut und sich die gegenlaeufigen Kraefte gegeinander reiben, ohne blutige Revolutionen zu meistern, denn sie ist dafuer gebaut, diese Spannungen auszuhalten. Egal wieviel Steine man uns in den Weg wirft, wir werden es schaffen, wenn wir nicht den Mut verlieren. Alles wird gut.