From: Boris Kraut Organization: Date: Fri, 06 Aug 2010 03:03:17 +0200 Category: Message-ID: <20100806010317.8FUk9w@silberbruch> Keywords: Comments: To: undisclosed-recipients: ; Subject: Ueber die Liebe (gekuerzte Zusammenstellung) Meine liebe Freundin, es waere anmassend, wenn ich behaupten wuerde, ich koennte deine Fragen - so wichtig und drigend sie auch sind - beantworten, denn Antworten sind es nicht, was ich zu geben im Stande bin. Was ich aber bieten kann, das sind nur Ratschlaege eines Freundes, einen Einblick in meine Denke, eine kurze Abhandlung meiner Sichtweise. Wie ich allerdings schon haeufig erwaehnt habe, bin ich eigentlich der falsche, wenn nicht sogar der ungeeignetste, Ansprechpartner, um ueber zwischenmenschliche Beziehungen zu reden. Ich kann dir auf diesem Gebiet keine eigenen Erfahrungen, sondern nur konstitutive Grundsaetze und Wertvorstellungen vermitteln. Auch kann ich dir deine Frage, was Liebe ist, nicht beantworten, denn wer bin ich denn, wenn ich es wage, ueber die Gefuehle anderer Menschen zu urteilen. Ich kann dir nicht sagen, was du fuehlst und was du unter solch grossen Worten wie 'Liebe' verstehst. Diese Antwort muss man sich selbst geben. Auch meine eigene Definition, die ich dir natuerlich trotzdem sehr ans Herz legen moechte, hier vollstaendig abzulegen, scheint mir unmoeglich, denn das Gedachte und das Gefuehlte in Worte zu fassen, das ist keine leichte Aufgabe. Wenn es mir also nicht moeglich ist, all dies dir in einer verstaendlichen Weise und der gebotenen Voll- staendigkeit zu erlaeutern, dann moechte ich wenigstens den Versuch in Angriff nehmen, dir einen kleinen, unvollstaendigen Ueberblick zu liefern. Nun, ich denke es wird Zeit das Hauptthema mal anzuschneiden. Du weisst, dass ich sehr stark zwischen "verliebt sein" und "jemanden lieben" unterscheide. In der heutigen Zeit wird dazwischen leider kaum ein Unterschied gemacht und selbst meine, sehr auf den beiden deutschen Worten aufbauende Einteilung, ist noch sehr ungenau. Eine deutlich differenziertere, wissenschaftlichere und tiefere Sicht auf das Thema haben beispielsweise Sokrates beziehungsweise Platon. Neben den bekannten Liebesformen Eros und Agape teilen sie die Liebe noch in zwei weitere ein, Stoika und Philia. Auch wenn ich die Lehren der beiden schon in meiner Schulzeit geniessen durfte und sie nur jedem ans Herz legen kann, finde ich meine Einteilung fuer deutlich praktischer. Sie ist zwar ungenauer, aber was an Liebe ist schon genau oder gar rational? Meine Einteilung hilft mir Gefuehle zu ordnen, Klarheit zu schaffen, nicht im Studel des Unbegreiflichen unterzugehen. Sie ist nicht perfekt, aber gut genug, um damit zu arbeiten, zu ueberleben. Das Verliebtsein ist das einfacher zu erklaerende von beiden. Auch wenn es hart klingt, im Grunde ist das wirklich nur Begierde, Begierde und Leidenschaft. Man moechte den anderen "besitzen". Man ist betoert von der Schoenheit - Schoenheit im Sinne der Quintia, nicht der Lesbia, wie es Catull in Carmen 86 beschreibt -, der Nettigkeit und ist total hin und weg. Verliebtheit kann einen zum blinden Hass treiben, wenn man nicht bekommt, was man will. Das ist natuerlich hier stark uebertrieben und quasi das Worst-Case-Scenario, aber ich denke du verstehst, was ich meine. Liebe dagegen ist etwas wundervoll selbstloses. Wobei ich mich immer frage, ob es Selbstlosigkeit wirklich gibt. Ist der Glaeubige, der einem Fremden Essen, Trinken und Unterschlupf gewaehrt, selbstlos, weil er es ohne Gegenleistung fuer einen anderen tut? Oder ist er es nicht, weil er durch sein vordergruendig selbstloses Handeln, sich eine Gegenleistung von einem Dritten - in diesem Falle Gott - erhofft? Man tut doch immer nur das, was man gerade fuer richtig(er) erachtet, sonst wuerde man es ja nicht tun. Man kann natuerlich auch etwas in der Sache falsches tun, wenn man dadurch etwas anderes, wichtigeres, positiv beeinflussen will. Solche kurzfristigen Zweckabwaegungen sind besonders haeufig in Not- oder Extremsituationen zu beobachten, aber das fuehrt uns zu weit. Ob man von einer Handlung also jetzt direkt oder erst spaeter profitiert ist also egal. Man glaubt, dass etwas gut und richtig ist und tut es dann.. Aber wie gesagt, ich schweife mal wieder ab. Es ist gar nicht so leicht, einzelne Teile des Ganzen isoliert zu betrachten. Also weiter zur Liebe. Liebe ist eine tiefe Zuneigung, ein nahezu absolutes Vertrauen und die Bereitschaft, den anderen auch aufzugeben, ihn frei zu lassen, ganz egal wie sehr es schmerzt - und es tut weh, mehr als alles, was man sich vorstellen kann. Liebe ist Selbstlosigkeit, Verstaendnis, Achtung, Wahrheit. Liebe ist alles. Liebe ist nichts. Liebe ist unfassbar, nur erlebbar. Liebe ist schwer zu beschreiben. Liebe IST. Um mal nicht so abstrakt zu bleiben, gehe ich naeher auf dich ein. Du schriebst, dass du nach einer Weile nur noch die negativen Dinge an deinem Partner siehst. Nun, nach meiner Vorstellung helfen einem normalerweise sowohl Verliebtheit als auch Liebe bei so etwas weiter. Wenn du verliebt bist, dann wirst du blind sein. Negatives wirst du entweder nicht sehen, positiv auslegen oder schlichtweg ignorieren. Dagegen wirst du, wenn du jemanden liebst, all diese negativen Sachen natuerlich wahrnehmen, du wirst sie nicht gut heissen und wohl das ein oder andere Mal ansprechen, aber du wirst sie zu akzeptieren lernen. Liebe hat, wie ich schon sagte, viel mit Akzeptieren und Verstaendnis zu tun. Das heisst nicht, dass man uns Maenner (oder euch Frauen) nicht veraendern kann, nur funktioniert das nur gemeinsam und nicht wenn es aufgezwungen wird. Es wird auch seine Zeit brauchen und eine Garantie gibt es, wie immer im Leben, eigentlich nicht. Du fragtest, ob es Menschen gibt, die nicht lieben? Ja, das denke ich schon. Es gibt doch so viele Menschen, die nicht lieben. Einfach weil sie selbst es noch nicht fuer sich geklaert haben, was Liebe wirklich ist. Sie werden um mit meinen Begriffen zu sprechen ewig Verliebtheit mit Liebe verwechseln. Sie muessen keine schlechten Menschen sein, denn vieles was man aus Verliebtheit tut, kann durchaus positiv sein. Schau dir nur die vielen treusorgenden Ehemaenner an. Ist es Liebe? Oder Verliebtheit, die mit der Zeit zur sozialen Verpflichtung wird? Aber das war nicht die Frage, denn du wolltest ja wissen, ob es Menschen gibt, die nicht in der Lage sind zu lieben. Eine Frage, die deutlich schwerer zu beantworten ist, aber dennoch wuerde ich auch hier fuer ein Ja plaedieren. Hier solltest du wohl aber eher einen Arzt oder Psychologen befragen. Die Frage, die du gestellt hast, habe ich nun beantwortet. Es bleibt aber die Frage, die du eigentlich stellen wolltest: Du fragst dich, ob du selbst in der Lage bist, zu lieben. JA! Bist du. Wuerde man mir nur die beiden oberen Auswahlmoeglichkeiten lassen, wuerde ich klar in erstere Gruppe einorden - ich moechte dir wie oben gesagt nicht zu nahe treten; ich kann nicht entscheiden, was du fuer deine bisherigen Partner empfunden hast - allerdings bist du allein dadruch, dass du dir die Frage stellst schon deutlich weiter als die meisten anderen. Du hast viele Fehlschlaege erlebt und stellst erstmal alles in Frage, das ist normal. Es gibt hier kein richtig oder falsch. Die eine Antwort, die gibt es gar nicht, denn sie ist wie das Leben selbst, sie ist ein Prozess. Es geht darum sich Gedanken zu machen, die richtigen Fragen zu stellen und sich selbst erstmal zu positionieren. Ich selbst scheine die Antwort fuer mich persoenlich gefunden zu haben, aber eine Garantie, dass ich richtig liege, habe ich nicht. Und auch wenn ich nun schon seit einiger Zeit an dieser Position festhalte, kann es ja durchaus sein, dass sich auch meine Einstellung irgendwann aendern wird. Alles ist im Fluss. Nun, auch wenn ich in Sachen Beziehungen eigentlich der falsche Ansprechpartner bin, so versuche ich doch dir neben der vielen Theorie, neben dem, was sein sollte, auch das zu zeigen, was ist, was ich sehe oder aus eigenen Erfahrungen zu berichten weiss. Es gibt wahnsinnig viele Moeglichkeiten eine Liebesbeziehung zu beginnen. Das kann ein spontanes Erlebnis sein, ein ONS, ein Kuss im alkoholisierten Zustand. Vielleicht auch nur der erste Augenblick des Sehens. Es kann aber auch - und das ist natuerlich weitaus haeufiger - einer langen Vorarbeit beduerfen. Statistisch gesehen, waeren wir Menschen wohl laengst ausgestorben, wuerden wir uns immer nur dann fortpflanzen, wenn zwei Partner sich gegenseitig lieben. Man muss oft auch erstmal den Partner dazu bringen, sich zu VERlieben, damit er danach einen lieben lernt; man muss ich kennen und verstehen lernen. Im Idealfall wuerde ich annehmen, dass sich zwei Menschen treffen, sich erstmal sympathisch finden, sich dann naeher kennenlernen. Erst entsteht Zuneigung, dann Freundschaft - und hier ist der Punkt, an dem es auch wieder total in die falsche Richtung ausschlagen kann - und schliesslich - im Idealfall bei beiden - Liebe UND Verliebtheit. Es ist naemlich, wie ich denke, fuer eine gute, gesunde Beziehung beides vonnoeten. Leider trifft man dieses Idealbild in der Wirklichkeit nicht all zu haeufif an. Ich denke, wenn Liebe UND Verliebtheit vorhanden sind, dann kann eine Beziehung ewig halten. Solang beide im Gleichgewicht sind, ist alles prima. Gewinnt letzteres die Ueberhand, kann es ziemlich eklig werden. Im besten Fall mutiert es zu einer Sexbeziehung, in der beide zufrieden sind, im schlechteren Fall fuehlt sich einer der Partner ausgenutzt; die Beziehung geht den Bach runter - mit den ganzen schmutzigen Details wie zerkrachten Freundeskreisen und so weiter. Verliert man nur die Verliebtheit, dann kann es sein, dass die eigentlich "Beziehung", also das "Zusammensein", zwar beendet wird, aber beide Partner sich immer noch freundschaftlich (oder mehr) in einer Art platonischen Liebe verbunden sind. Eigentlich glaube ich sogar, dass man nie wirklich aufhoert, jemanden zu lieben. Man lernt eigentlich nur, den Partner loszulassen und versucht ohne ihn zu leben - UEBERleben? Eine Ausnahme davon ist beispielsweise, wenn der Partner einen so tief verletzt, dass die Liebe in absoluten Hass kippt; auch das ist ja nicht unueblich. Eigentlich interessant, dass die Person "die weiss, wie man eine Beziehung gesund erhaelt" - ich glaube das waren deine Worte? - es eigentlich gar nicht weiss beziehungsweise es nicht in Worte fassen kann. Ich denke, die theoretische Antwort oder besser meine Sicht der Dinge habe ich dir gegeben. Falls du nun konkrete Handlungsweisen von mir verlangst, dann muss ich dich leider enttaeuschen. Zum einen gebe ich ungern konkrete Anweisungen, denn durch reines Kopieren und Anwenden wuerde niemand zum Ziel kommen - insbesondere wo doch jeder Situation gerade bei diesem Thema einmalig ist. Zum anderen kann ich selbst dir diese Tipps aus Mangel an Erfahrungen gar nicht geben. Es waere unrichtig, wenn ich mich zum Meister der Praxis aufschwingen wuerde. Einen kurzen Absatz moechte ich auch noch der Frage, ob man mehrere Personen lieben kann, widmen: Die kurze Antwort ist NEIN. Die lange ist JA, aber... Wir alle lieben doch in gewisser Weise mehrere Leute oder sogar Dinge. Eltern, Freunde, abstrakte Begriffe wie Freiheit. Auch kann es sein, dass man seine derzeitige Partnerin liebt, aber immer noch eine platonische Beziehung zu einer seiner Verflossenen hat, eben weil die Liebe noch da ist, aber nicht die Verliebtheit. Wichtig aber ist, und das ist der Grund fuer das eigentlich NEIN, dass eine dieser "Lieben" absolut ist. Vielen ist das nicht bewusst, weil sie daran keine Gedanken verschwenden, solang es keine Probleme gibt. Aber kommt es hart auf hart, muss man sich entscheiden. Das tut weh. Nicht nur, weil man dann jemanden verliert, sondern weil man ein Versprechen gebrochen hat; das Versprechen, dass man fuer einander da ist, das Versprechen zu lieben. Im Grunde steckt hier auch die uralte Frage dahinter, welchen von zwei Soehnen man aus brennenden Haus rettet, wenn man nur einen von beiden retten kann. Klar, am liebsten wuerde man beide retten. Oder man wuerde versuchen sein Leben zu geben, damit beide ueberleben. Aber das kann man nicht beeinflussen oder erzwingen. Das Leben ist nicht gerecht oder fair. Das Leben "ist". Um den Bogen zu schliessen, gehe ich kurz auf das ein, was der Ausloeser unserer Diskussion war, meine derzeitige Situation. Es ist wunderschoen, wenn Liebe und Verliebtheit zusammenkommen und an einem Strang ziehen, aber es wird so verteufelt schwer, wenn beide Gefuehle in unterscheidliche Richtungen ziehen. Vor einiger Zeit noch war ich der Meinung, dass ich gelernt haette, mit Gefuehlen umzugehen, sie zu kontrollieren und sie in gewissem Masse zu lenken, aber das, was ich momentan durchlebe, das ist eine fuer meine Verhaeltnisse ungewohnt starke Reaktion; damit habe ich nicht gerechnet. Selbst wenn man bedenkt, dass man die aktuelle Situation immer als "neu und noch nie da gewesen" empfindet, so wage ich es zu sagen, dass ich frueher zwar schon genau wusste, was fuer mich Liebe und Verliebtheit theoretisch bedeutet, aber ich das ganze erst jetzt zum ersten Mal schonungslos und mit voller Wucht ERLEBE. Ich koennte dir jetzt noch seitenweise erzaehlen, wie wundervoll es ist, sie im Arm zu haben, wie die Zeit stillsteht, wenn wir uns begruessen oder verabschieden, wie wunderbar sie duftet, was fuer ein unglaubliches Gefuehl es ist, ihre Finger zu beruehren oder in ihren Haaren rumzuwuscheln. Der Ausdruck in ihren Augen, wenn sie lacht oder sich freut - unbeschreiblich. Allein ihr zuzusehen, wie sie irgendwo sitzt und redet oder etwas aufschreibt.. Das ist wirklich der Kern aller Schoenheit in seiner reinsten Form. Das ist, was es wirklich heisst verliebt zu sein. Und dann? Dann schlaegt die Liebe mit aller Wucht zurueck und laesst den Hammer der Vernunft auf deine Gefuhele fallen. Dein Herz zersplittert in tausend Stuecke und du bist sogar noch froh darum, weil es ja viel logischer ist. Weil es dem entspricht, was du die ganze Zeit predigst. Weil du sie nicht gluecklicher machen kannst, als sie schon ist. Du hast kein Recht, das Glueck zu stoeren. Du willst ihr helfen und sie nicht ins Unglueck treiben. Hier kommt dann oft der Einwurf, dass man entweder kaempfen oder so eine Person vergessen sollte, damit man offen neues ist und sich nicht ewig an etwas aufhaelt, was man nicht bekommen kann. Nun, wer einmal zu jemanden die drei magischen Worte - Ich liebe dich - gesagt hat und ein aehnliches Verstaendnis davon hat, wie das meine, der wird wissen, dass man danach nicht mehr um die Person kaempfen kann, sondern hoechstens fuer sie. Und sie vergessen? Haben diese Leute jemals geliebt? Wuerden sie nur einen einzigen Schritt in meinem Leben so gegangen sein wie ich, dann wuerden sie verstehen, dass das keine Option ist, ganz egal wie rational es sein mag. Diese Rationalitaet haette mich fast dazu gebracht, Dinge zu tun, die ich bereut haette; Dinge, die alles - das, was ich bin, war und sein werde - veraendert haetten: Getreu dem Motto, alles kranke herauszuschneiden, bevor es wuchert und den Rest des Koerpers verseuchen kann, haette ich wohl alle Zelte hier abgebrochen und waere dorthin zurueck, woher ich einst kam. Ich war dort. Ich moechte dort nicht mehr sein. Es waere einfacher gewesen, ja, aber dort kann man nur ueberleben, nicht leben. Auch wenn es dort nicht sicher gewesen waere, so ist die eigentliche Gefahr, die es zu meistern gilt, doch hier. Und dieser Gefahr, dem was es heisst zu leben, dieser Gefahr haette ich mich nicht gestellt. Es waere feige gewesen.. und falsch. Ihre Freundschaft ist der derzeitig einzige gangbare Weg, auch wenn links und rechts des Weges die tiefsten Abgruende sich auftun. Mute ich ihr zu viel zu? Ist sie stark genug? Bin ich es? Ich hoffe, dass dir das Lesen dieses Briefs bei deinen Problemen ebenso hilft wie mir das Schreiben bei den meinen. Ich hoffe, dass die Zeit die Wunden heilt. Ich hoffe auf das Gute und auf ein Ende. Ich hoffe auf ein gutes Ende. Ich hoffe. Ende. In Freundschaft, Erinnerung an das Durchlebte und tiefer Verbundenheit -- Boris Kraut