From: Boris Kraut Organization: Date: Fri, 06 May 2011 13:04:58 +0200 Category: Message-ID: <20110506110458.oEHdLU@silberbruch> Keywords: Comments: To: undisclosed-recipients: ; Subject: Aus dem Brief an einen Dozenten Sehr geehrter [...], nach nun einer ganzen Weile, die ich an der PH Karlsruhe studiert habe, ist es wohl an der Zeit Ihnen mal einige Zeilen zu schreiben. Dieser Brief sollte nicht als Angriff auf Sie persoenlich oder gar auf die Institution verstanden werden, sondern eher als Erfahrungs- nericht, als Einblick in die Gedankenwelt eines Studierenden, ja, vielleicht sogar als Anregung. Ich persoenlich halte Klausuren, die darauf ausgelegt sind innerhalb von kurzer Zeit, beispielsweise 90 Minuten, moeglichst viel gelerntes Wissen -- in wie weit es erlernt wurde, bleibt auch nach dem "Bestehen" fragwuerdig -- wiederzugeben, wozu trotz zahlreicher Verbesserungen in diesem Jahr leider auch mal wieder die Paedagogik-Klausur zaehlte, fuer tendenziell inhuman. Die angesprochenen Veraenderungen machten es zudem den Wiederholern, die schon einmal von der Klausur enttaeuscht wurden, zusaetzlich schwer, denn die Struktur der Aufgaben, die man ja zu kennen glaubte, hat sich doch stark veraendert. Die Vorbereitung erfolgte also auf eine Klausur, die es in dieser Form nicht gab. Ich bin mir sicher, dass viele Wiederholer die jetzige Klausur vor einem Semester ohne Probleme haetten bewaeltigen koennen und umgekehrt die aktuelle Klausur deutlich besser bestehen haetten koennen, wenn sie ihre Vorbereitung nicht an die Erfahrungen angepasst haetten. Inhuman, das ist sicherlich ein Schlag ins Gesicht fuer jeden Paedagogen, der sich doch sehr seinem humanistischen Menschenbild verschrieben hat. Lassen Sie es mich erklaeren: Wiedergeben, Teilen, ja, das Kopieren von Wissen und Werten, ist einer der Pfeiler, auf denen unserer Kultur fusst und -- dieser kleine Exkurs sei mir als Informatiker gestattet -- kann niemals ein Verbrechen sein, auch wenn das einige Leute der so genannten Verwetungsgesellschaften behaupten. Oder, um es mal positiv zu formulieren: Kopieren ist gut, wenn auch gleich die Gefahr besteht, damit diese Kulturgueter "wertlos" zu machen; aber worin liegt deren Wert? In der Leistung der Vervielfaeltigung oder in jener Leistung, die der Autor erbringt, im Denken, im Schaffen von Originalen? Und noch weiter: Der Wert wird nicht nur von diesen Vordenkern erzeugt, denn jeder "geniale" Gedanke ist ein Samen, doch erst wenn er in jedem von uns aufgehrt, entfaltet er seine wahre Schoenheit und Wichtigkeit. In diesem Zuge mag ich an das gefluegelte Wort der "Deutschen als Volk der Dichter und Denker" erinnern. Ist ein Volk dank seiner herausragenden Denker diesem "Titel" wuerdig? Oder lag es daran, dass das unheitliche und teilweise nicht existente "Urheberrecht" Schwarzdrucke der grossen Denker erlaubte und dieses Wissen daher einer grossen Zahl an Menschen kostenguenstig zur Verfuegung stand? Der Wert des Wissens waechst je billiger dessen Vervielfaeltigung und Verteilung wird. Techniker gaben uns die Moeglichkeit dies alles kostenlos zu tun, was keine Verwertungsgesellschaft unterbieten kann. Wir sollten diese Moeglichkeit nutzen. Jetzt. Tun wir dies nicht, so bekennen wir uns schuldig am Niedergang der Menschheit. [...] Wie gesagt, dass Kopieren von Wissen ist ein zentraler Schritt im Werdegang der Menschheit, doch wir haben schon relativ frueh damit begonnen, diesen Schritt auszulagern: Mit der Erfindung von Schrift, von Buchdruck oder, wie in juengster Zeit, von digitalen Speicher- und Vervielfaeltigungstechnik. Es kann daher nicht mehr Aufgabe des Menschen sein, Wissen exakt wiedergeben zu koennen, die dadurch gebundenen Ressourcen muessen viel mehr frei gemacht werden, damit man sie fuer weiteren Fortschritt der Menschheit einsetzen kann. Das bedeutet aber nicht, dass einmal fixiertes Wissen nur noch konserviert werden soll, denn es ist ja gerade sehr wichtig, dass man iest, dass man hoert, dass man das Geschrieben durchdenkt -- oder gar neu denkt. Diese in einem positiven Sinne "Reproduktion" von Wissen, das "erneute Hinfuehren des Geistes auf ein Ziel" als eigenes Durchlaufen der schon vorhandenen Gedankengeaenge und das Verstehen von historischen Zusammenhaengen ist wichtig und meiner Meinung nach unerlaesslich, um damit die Grundlage von eigenem, neuem Denken, Wissen, Fuehlen zu legen. Doch dieser Schritt erfolgt waehrend des ganzen Studiums (und Lebens!) oder -- um es zeitlich naeher zu fassen -- innerhalb des Semesters und eben nicht am Ende in einer Klausur, die das reine Auskotzen von unverdautem Wissen, oder besser "leblosen Stoff", darstellt. Ich moechte Ihnen eigentlich keine Vorwuerfe machen, denn ich bin mir durchaus bewusst, dass es nicht leicht ist sich gemaess seines eigenen paedagogischen Masstabes zu verhalten, wenn man den Zwaengen von Studien- und Pruefungsordnung unterworfen ist und die Gesellschaft die schnelle und "faire" Abfertigung, Ausbildung der Massen an Studierenden gewaehrleisten soll, wo man eigentlich die lebenslange Bildung anstossen will. Trotzdem muss ich doch klar sagen, dass diese Klausur eigentlich nicht dem entspricht, was Sie lehren -- oder zumindest nicht dem was ich glaube davon verstanden zu haben. Vielleicht waere ein wenig mehr Wahrhaftigkeit richtig, denn man sollte doch auch leben, was man lehrt, oder sind Sie selbst in der paedagogischen Praxis gescheitert? Wie ich sagte, dies ist weniger ein an Sie gerichteter Vorwurf, eher geht dies in Richtung der gesamten Bildungspolitik. Der Besuch einer HochSCHULE -- den Begriff Studium moechte ich hier in diesem Zusammen- hang eher nicht nennen -- ist nach all meinen Erfahrungen inzwischen darauf ausgerichtet, der breiten Masse der Studenten einen Abschluss zu ermoeglichen. Dies ist natuerlich nicht schlecht, damit dieser Moeglichkeit auch die des eigentlichen Studiums fuer (nahezu) jeden eroeffnet wird. Leider erdruecken einige der Regeln und Ordnungen Dozenten wie auch Studenten und es ist schmerzlich zu sehen, dass viele, durchaus nicht schlechte, vielleicht sogar teilweise sehr gute Studenten daran verzweifeln und scheitern. Auch Immanuel Kant sagte ja schon, dass der "Gaengelwagen der Regeln" die Genies verderbe. Ob sich die Gesellschaft wirklich einen solchen Verlust leisten kann, wage ich zu bezweifeln, aber diese Entscheidungen steht anderen zu. Doch eine Frage bleibt: Koennen Sie selbst das verantworten, dazu beigetragen zu haben? [...] Was auch immer sie mit dieser Klausur bezwecken wollten, Sie sind gescheitert! [...]