From: Boris Kraut Organization: Date: Mon, 08 Aug 2011 16:18:37 +0200 Category: Message-ID: <20110808141837.aq8Zpd@silberbruch> Keywords: Comments: To: undisclosed-recipients: ; Subject: Nymwars Nymwar, also der Kampf um Anonymitaet und Pseudonymitaet im Netz, ist ein Stichwort das seit Facebook und Google+ haeufiger durch die Medien thematisiert wird. So sehr ich mich fuer das ganze interessiere und ich mich auch immer aktiv gegen eine Klarnamens- pflicht ausgesprochen haben, geht die aktuelle Debatte relativ an mir vorbei. Trotzdem moechte ich das Thema mal kurz (:p) aufgreifen. Dabei moechte ich nicht auf den Widerspruch eingehen, dass man fuer die Menschen in den anderen "Regimen" dieser Welt Anonymitaet als wichtig ansieht, man aber hier in einer tollen "Demokratie" das doch nicht mehr braeuchte (Vielleicht haben solche Leute ja Angst.. weniger um unsoziales Verhalten oder Anschlaege, sondern davor, dass man auch auf dem Weg zu so einem Regime ist? Aber darum soll es hier ausnahmsweise nicht gehen.): Wer ab und zu meine Folien zu Datenschutz/Medienkompetenz liest, der weiss, dass ich da zwei grundlegende Arbeitsfelder sehe: Wir muessen einerseits vorsichtiger und bewusster beim SENDEN von Informationen sein, was der bekannte Grundtenor bei der Thematik ist, andererseits muessen wir auch lernen beim EMPFANGEN von Informationen genauer hinzusehen, d.h. die Daten richtig ein- ordenn und bewerten zu koennen, kritisch zu hinterfragen. Dabei ist es wichtig zu akzeptieren, dass persoenliche Daten im Netz sind, die in einem bestimmten Kontext entstanden sind, dass ein "Partybild" eben noch keinen Alkoholiker macht, aber genau so muss es gesellschaftlich akzeptiert werden, ein pseudonymes, anonymes oder eben auch gar kein Profil zu haben. Zu der Hoffnung, dass die Leute zivilisierte miteinander umgehen, wenn sie unter ihrem Klarnamen unterwegs sind, muss ich zwei Dinge sagen: Zum einen kenne ich genuegend Menschen, deren Name ich kenne, die sich weder im Internet noch im "realen" Leben benehmen koennen. Das hat auch Danah Boyd schon festgestellt: > In my work with teens, I see textual abuse ("bullying") every > day among people who know exactly who each other is on Facebook. > The identities of many trolls are known. Zum anderen ist der Fall aehnlich gelagert wie bei Ueberwachung: Die Leute aendern ihr Verhalten allein durch die Ueberwachung, sie passen sich an. Das bedeutet aber nicht, dass die Leute "zivilisierter" werden. Sie verlagern die Ausuebung der un- erwuenschten Eigenschaften nur in andere Bereiche, teilweise sogar mit gesteigerter Intensitaet! Man kann Menschen nicht durch solche Vorgaben aendern. Zwang macht auf kurze Dauer vielleicht gefuegig, aber irgendwann bricht das Selbst hervor. Man selbst zu sein, das ist in der (heutigen?) Gesellschaft nicht leicht, weil man einer Vielzahl von Zwaengen unterliegt und man oft fuer seine "Eigenart" abgestraft wird. Ich versuche ich selbst zu sein, wahrhaftig zu sein, nichts vor zu spielen (vgl. u.a. Rousseaus Schauspielkritik), aber das ist sehr schwer, wird nicht akzeptiert und man hat damit doch sehr zu kaempfen. Bevor wir also anfangen, nach einem zivilisierten Internet und braven Nutzern zu schreien und das mit einer Klarnamnespflicht -- seitens der Wirtschaft oder der Politik -- erzwingen wollen, sollten wir als Gesellschaft erstmal lernen Andersartigkeit zu akzeptieren und Wahrhaftigkeit zu foerden. Dann kann man schon darueber nachdenken und reden, wie man Menschen zu gewissen Verhaltensweisen anhalten kann, wobei Sanktionierung und Zwang von oben herab meist keine innere Veraenderung bewirken -- die Leute muessten aus sich selbst heraus ueberzeugt sein, dass eine zivilisiertere Verhaltensweise fuer sie selbst und fuer andere Vorteile hat. Damit hier niemand das Wahrhaftigkeitsargument falsch versteht und mich als ein Befuerworter der Klarnamen sieht, nur weil ich selbst mein Selbst auch in meinem buergerlichen Namen gefunden habe: Nicknames, Kosenamen, selbst [sic!] gewaehlte Namen sind meist viel ehrlich, viel wahrhaftiger als der Name, der einem bei Geburt gegeben wird. Wie kann es denn sein, dass wir es akzeptieren, dass das angeborene Geschlecht nicht als das eigene empfunden wird, aber ein Problem damit haben, das jemand seine "Benennung" aendert? Damit haetten wir schonmal einen Punkt geklaert, den das jeder selbst sich selbst finden muss, und das wir das zu respektieren haben. Ein weiterer Punkt beim Thema Wahrhaftigkeit ist, dass es zwar ein Selbst -- also eine Identitaet -- gibt, nach dessen innere Position handeln und argumentieren, dass wir im wahrsten Sinne ein unteilbares Individuum sind, aber man sich dadurch als ein Aussenstehender nicht verleiten lassen sollte, anderen Menschen vorzuwerfen, man sei nicht man selbst, man muesse immer den gleichen Namen haben oder man muesse immer gleich handeln. Ich lasse mal die beiden Faelle weg, dass man Brueche in sich haben kann und dass man auch einfach mal aktiv nicht man selbst sein will, was durchaus berechtigt ist. Worauf ich hinaus will ist, dass man sich selbst treu sein kann, auch wenn man fuer Aussenstehende widersprueglich handelt: Das eigene Handeln ist immer situationsbezogen und kontext- sensitiv. Diese Einschaetzung der Situation ist prinzipbedingt subjektiv, also jedem selbst [sic!] ueberlassen. Nur weil wir die Lage anders einschaetzen, weil wir annehmen, der andere wuerde diese Einschaetzung teilen, nur deshalb entsteht bei uns der Gedanke, der andere waere nicht er selbst. Aber wer koennte das denn besser beurteilen als -- wie offensichtlich -- die Person selbst? Damit ergibt sich auch die Aufloesung eines Widerspruchs, den meine obengenannte Vorstellung von einer einzigen Identitaet mit dem von Befuerworten von Pseudonymitaet und Anonymitaet oft genannten Begriff des Identitaetsmanagement: Es handelt sich dabei um eine ungenaue Bezeichnung, denn es geht nicht darum seine sogenannten Identiaeten -- hier waere ja schon ein Widerspruch zu sehen -- zu managen, sondern je nach Kontext bestimmte Eigenschaften herauszustellen und zu betonen. Alle dieser "Identitaeten" haben aber einen gemeinsamen Kern. Dieser Kern ist das, was ich als Identitaet ansehe. Wem das zu abstarkt ist, der soll sich daran erinnern, wie man je nach Funktion (Vater, Bruder, Freund, Arbeitsgeber, Arbeiter, Angestellter, Vereinskamerad) sich teilweise anders verhaelt und teilweise andere Namen hat -- teilweise selbst gewaehlt, um eben bestimmte Zuege zu unterstreichen, aber oft auch von anderen aufgrund der kontextbezogenen Staerken und Schwaechen verliehen. Um zu einem Abschluss zu kommen moechte ich wieder zurueck zu meiner ehrenamtlichen Arbeit kommen. Ich moechte jeden, der jetzt die Klarnamenspflicht fordert, darum bitten mir zu sagen, was ich seinen Kindern beim Thema Medienkompetenz raten soll: Sollen die Kids mit Klarnamen ins Internet, um dort beim Chat dem naechsten "Pedokriminellen" in die Haende zu fallen? Oder sollen sie dann doch lieber einen erfundenen Nickname waehlen, was allerdings die Gefahr weckt, dass sie im Schutz der Anonymitaet die Klassenkameraden mobben? Achso, ihre Kinder wuerden das nicht tun? Weil sie sie gut erzogen haben? Nun, vielleicht waere das ja mal ein Vorschlag: Mehr Bildung und bessere Erziehung statt Zwang zum Klarnamen!