From: Boris Kraut Organization: Date: Tue, 16 Aug 2011 03:52:22 +0200 Category: Message-ID: <20110816015222.R7yaHF@silberbruch> Keywords: Comments: To: undisclosed-recipients: ; Subject: Noten, deren Vergleichbarkeit und andere Probleme Ohne naeher auf die Vorgeschichte einzugehen, hier ein geschnittener Teil aus einer teils sehr rant-artigen Mail. Eigentlich war sie als rationaler, etwas mehr der Sache verpflichteter Erklaerungsversuch gedacht, aber das hab ich nicht geschafft. Das naechste Mal plane ich mehr Abkuehlungszeit ein, ein paar Stunden reichen manchmal nicht... Ich bin ungluecklich wie vorhin die Diskussion gelaufen ist, weil ich wieder den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht hab. Von daer hier nochmal ein paar Gedanken: Vielleicht ist das nicht klar geworden, aber ich halte deutschlandweit einheitliche Pruefungen schon mal fuer einen grossen Fortschritt, wobei es mir weniger auf die Pruefungen ankommt als drauf, dass einheitliche Bildungsstandards (ha.. badenwuerttmbergischer Propagandabegriff :P ) gefunden werden, die festlegen, welche Aufgaben Schule hat und welche Faehigkeiten/Fertigkeiten/Kompetenzen die Schueler am Ende mitbringen muessen, um in der Gesellschaft nicht nur bestehen, sondern aufgehen zu koennen. Fuer die Schule gibt es solche Ansaetze, die Funktionen von Schule sind vielfaeltig und unterscheiden sich je nach Autor immer -- meist nicht beim Thema ob X wichtig ist, sondern ob X in der Schule oder im Verein, in der Familie, im Freundeskreis usw. anzusiedeln ist -- aber ueberschneiden tun sich die meisten in drei Punkten: Allokation, Selektion, Qualifikation. Erziehung, Sozialisation, Persoenlichkeits- entwicklung usw. werden auch oft genannt, aber werden (momentan noch) prozentual mehr in anderen Bereichen verortet, aber das aendert sich, z.B. mit Ganztagsschulen. Je nachdem was politisch und gesellschaftlich gewollt ist, kann man die Punkte unterscheidliche gewichten und erweitern. Wenn wir die Erziehung in die Schule schieben, dann bitte, los, baut mehr Ganztags- schulen, aber dann brauchen wir auch mehr Paedagogen statt nur Lehrern ..oder eben zusaetzlich mehr Sozialarbeiter/Erzieher und Co. Auch wenn ich ich mich selbst klar als Paedagoge sehe, solltest du inzwischen wissen, dass ich in so fern von der alten Schule bin, dass bei mir Qualifikation, gerade fachliche, einen sehr hohen Stellenwert besitzt, ich bin defintiv kein Kuschelpaedagoge. Auch Selektion ist wichtig und ich habe mich da im Eifer des Gefechts verplappert, denn mir ging es nicht um das ob, sondern das wie. Du hast aber recht, Selektion bekommst du nicht raus und sie ist gewuenscht. Am Ende muss halt einer Arbeit X und nen anderer Y machen. Die Allokation packe ich einfach mal hier dazu, denn die Zuweisung innerhalb des Schul- und Bildungssystems, wie auch in der Gesellschaft ist imho eine Art Selektion. Mein grosses Problem ist, dass das momentane Verstaendnis von Selektion die Qualifikation unterwandert. Die auswaehlende Instanz (Hochschule, Arbeitsgreber etc.) will die grosse Anzahl von Bewerbern schnell ab- fertigen. Noten erleichtern da die Vorauswahl extrem, kann man auch wunderpraktisch maschinell erledigen lassen, aber sie schleppen auch Probleme mit: Fuer die Bewerter und damit fuer jeden einzelnen in der Gesellschaft bergen sie die Gefahr in eine menschenunwuerdige Denke zu verfallen, wenn man nur die Zahlen sieht und nicht ganzheitlich den Menschen betrachtet. Ausserdem foerden sie den Glaube in Vergleich- barkeit (wo keine ist) ohne die Vergleichsgrundlagen (was? wie?) zu erklaeren. Fuer die Schule haben Noten gleich mehrere Probleme. Sie motivieren den Lehrer dazu seine Aufgaben so zu stellen, dass sie leicht in Noten umgerechnet werden koennen, was in der Folge dazu fuehrt, dass er auch den Unterricht darauf ausrichtet. Die Qualifikation ist also nicht mehr das Ziel, sondern der Weg fuer die Selektion. Das ist nicht nur falsch, sondern auch gefaehrlich und schaedlich. Das ist einer der Gruende, die zum Verfall der Abschluesse gefuehrt haben. -- andere Gruende habe ich ja vorhin schon genannt. Das ganze wirkt sich dann auch auf die Schueler aus, denn die merken relativ schnell, was Punkte gibt, worauf das hinaus laeuft. Und die einen richten dann ihr Lernen darauf aus, die anderen sagen Hartz4 ist genug. Da von dir da ein gewisser Unterton mitschwang, muss ich hier mal kurz sagen was hinter dem ganzen steht: Es geht mir nicht darum die "Hartzer" durchzuboxen, die brauchen andere Hilfe (wenn man nur die drei Funktionsbegriffe betrachtet z.B. eine durchlaessigeres Schulsystem und nicht finale, in Stein gemeiselte Selektion), mir geht es darum, das wir mit dem System auch die faehigen Schueler verlieren. Tu dir nen Gefallen und kram dein Abi-Zeugnis raus. Was steht da? Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife! Befaehigung zum Studium! Fakt ist, dass das inzwischen nicht mehr stimmt. Und statt die Ursachen zu beseitigen und es wieder zu einer "Qualifikation" zum Studium zu machen, hat man das Hochschulwesen dieser Unquali- fikation angepasst! Studium ist nicht mehr Studium, es ist Hoch- schule. Ich glaube nicht das wir uns so etwas leisten koennen... Ja, die Noten sind nicht das alleinige Uebel, hab ich auch nicht gesagt, aber sie sind ein Teil davon. Noch dazu weil sie noch ganz andere Dinge befoerden: Durch die Illusion der Vergleichbarkeit, vergleicht man natuerlich auch. Und nicht nur bei der Bewerbung, nein, das geht in den untersten Klassen los. Eltern vergleichen ihre Sproesslinge immer gern, gerade wenn man ihnen so ein tolles Werkzeug wie Noten in die Hand gibt. Ich habe kein Bock, den vPenis der Eltern zu vergroessern. Sie erhoehen den Druck auf die Lehrer, moeglichst gute Noten zu vergeben. Druck ist sowieso ein gutes Stichwort, denn auch auf die Kinder erhoehen sie den Druck -- teils bewusst, teils unbewusst, weil das Kind einfach den Erwartungen entsprechen will. Wir haben ja darueber geredet, dass ich selbst einen gewissen Druck brauche, um gegen meine eigene Faulheit anzukaempfen, aber hier zielt der Druck ja darauf, dass man gute Noten bekommt. Es geht dabei nicht darum, dass man viel versteht, lernt und Wissen konstruiert. Klar, man muss auch lernen mit Druck und Stress umzugehen, aber nicht um jeden Preis. Und ein Preis, der beinhaltet, dass die Selektion nicht nur die Qualifikation verdraengt, sondern sich auch die ausser- schulischen Funktionen des Entwicklungsprozesses Untertan macht, dieser Preis ist zu hoch (und fuehrt auch dazu, dass man diese dann in die Schulen verlagert). Ich sag nur mal Teamfaehigkeit, das so oft beschworene Buzzword. Wird zwar immer gefordert, aber das System erzieht nicht dazu. Da kannst du zig Gruppenaufgaben stellen, am Ende zaehlt die Note des einzelnen, das ist ein knallharter Konkurrenzkampf. Jaja, der Markt ist ein hartes Pflaster und Konkurrenz belebt das Geschaeft.. Bullshit! Die Gesellschaft hat den Punkt schon laengst ueberschritten, wo es darum geht fuer sich das Maximum rauszuholen, wir haben deutlich schwierigere Probleme, die wir zusammen loesen muessen. Ja, der Mensch ist egoistisch, aber genau das kann er schon. Zusammenarbeit ist viel wichtiger, denn die muss er ja wirklich erst erlernen. Und die Schueler muessen moeglicht frueh begrreifen, dass diese Zusammen- arbeit auf Dauer fuer sie selbst als Egoist von Vorteil ist und man quasi als Bonus noch den Fritz von gegenueber und die Lise von nebenan gerettet hat. So, jetzt habe ich wieder zig Zeilen geschrieben, aber bin eigentlich nicht oder nur am Rande auf das eingegangen, was ich thematisieren wollte. Es ist aber spaet, also nur kurz: Die Vergleichbarkeit von Noten ist ein Mythos. Die Werte sind zwar verlgeichbar, aber ihre Aussagekraft ist nahezu Null. Wenn sie also ihr Ziel nicht erfuellen und zudem oben genannte Nachteile mit sich bringen, warum dann behalten? Wie gesagt, Noten will ich streichen, nicht aber Benotungen im Sinne von echtem Feedback. Ja, auch ein Buzzword, aber vergiss was du zu wissen glaubst. Es geht einfach um die Kraft die Wahrheit ueber seine Einschaetzung zu sagen und diese zu begruenden. Auf der anderen Seite geht es darum, mit dieser Klarheit umgehen zu koennen: Sie aufnehmen, verarbeiten, Schluesse ziehen und auch kritische Rueckfragen zu stellen (Ich sehe das anders. Was ist damit gemeint? Wie kann ich mich bei X gezielt verbessern?). Auch diese Rueckfragen muessen natuerlich vom Lehrer ausgehalten werden. Dabei duerfte ein deutlich differenzierteres und aussagekraeftigeres Bild rauskommen, als bei Punkten oder Noten. Sprache ist dafuer deutlich geeigneter, aber ja, ich weiss, dass es da auch Probleme gibt, z.B. die Uebersetzung von Phrasen in Noten. Ich glaube aber nicht, dass die Probleme unloesbar sind, wenn auch gleich ich keine Patentloesung habe. Man koennte bspw. ueber eine Art Bildungs- portfolio (ich weiss, auch ein ueberstrapazierter Begriff) nachdenken. Alle Loesungen werden im Endeffekt mehr Zeit und Arbeit fuer alle beteiligten bedeuten, Schueler, Lehrer, Eltern, Personaler, aber ich denke das ist es wert.