From: Boris Kraut Organization: Date: Fri, 09 Dec 2011 03:07:09 +0100 Category: Message-ID: <20111209020709.5c6Tb2@silberbruch> Keywords: Comments: To: undisclosed-recipients: ; Subject: SecondLife - Lernen und Interagieren als Avatar Frueher habe ich in Videospielen oft das Streben zum Realismus bemaengelt, da ich der Auffassung war, dass man mit einer moeglichst naturgetreuen Abbildung der bekannten Welt einfach die vielen Moeglichkeitern einer virtuellen Welt ignoriert. Im besten Fall hatte man realitaetsnahe Spiele, die gezielt (derzeit) unmoegliche Elemente beinhalteten. Aehnliche Gedanken kommen mir bei SecondLife jetzt wieder: Wozu der Avatar? Welche Inhalte lassen sich nur ueber den Avatar erfahren? Versteht mich nicht falsch, ich bin nicht grundsaetzlich dagegen, immerhin legt ja allein der Name, SecondLife, es nahe, dass es hier um eine realitaetsnahe Simulation geht, dazu gehoeren eben "Avatare". Doch wo wird das wirklich genutzt und was verbaut man sich damit? Der Ausloeser fuer die Ueberlegungen war eine Praesentation, deren Sprecher ueber SecondLife zu den Zuhoerern sprach, die Folien zum Vortrag liefen aber nur lokal mit -- und das obwohl es in SecondLife erstaunlich viele Hoersaaele gibt. Dass eben diese nicht fuer die Praesentation genutzt wurden spricht doch Baende: Es gibt keinen Grund, warum man in einer virtuellen Welt die Nachteile der realen Welt nachbauen sollte! Schlechte Sicht auf die Folien, ueberfuellte Seminare -- wenn nicht vorher die Server abschmieren -- usw... Es scheint, als ob man beim "Bau" dieser Raeume nicht bereit war ueber die Moeglichkeiten der Realitaet hinauszudenken: Ein Avatar ist, so die Wikipedia, die koerperliche Manifestation eines auf die Erde herabsteigenden Gottes. Lassen wir das Goettliche einmal weg -- ueber die Implikationen, dass wir uns mit dem Begriff Avatar selbst zu Goettern machen, laesst sich sicher auch viel schreiben, aber dazu vielleicht ein anderes Mal... -- dann geht es darum, dass wir dem abstrakten Selbst eine Repraesentation geben; dabei ist es wichtig, dass die hoehere Ebene, von der wir "herabsteigen" das Selbst ist, unsere "Seele" und nicht unsere koerperliche Repraesentation in der "realen Welt". D.h. wurde frueher das Internet in Ermangelung der technischen Moeglichkeiten als ein Werkzeug zur Ueberwindung der koerperlichen Grenzen angesehen, ja als ein Schritt in Richtung der Transzendenz, die ja einigen Philosophen als Ziel unsereres Strebens, unseres Seins, gilt und auch von Maslow an die Spitze seiner "Beduerfnispyramide" gesetzt wurde, so gehen wir doch mit Avataren -- noch dazu menschlichen Avataren -- wieder den Weg in die andere Richtung: Wir steigen wieder herab auf eine verstofflichte Ebene. Doch halt! Der Avatar ist ja freigewaehlt. Wir begeben uns in eine (virtuelle) verstofflichte Welt und entscheiden da zum ersten Mal selbst, wer/was wir sind, wie wir aussehen, wie wir uns selbst sehen oder gesehen werden wollen -- eine Erfahrung, die uns in der realen Welt verwehrt bleibt, selbst wenn wir uns mit Alibihandlungen (dank moderner Medizin oder schlicht ueber das Prinzip "Kleider machen Leute") ueber das Nicht-Faehig-Sein hinwegtroesten/beluegen. Von daher ist die Nichtnutzung dieser Hoersaaele vielleicht nur eine Abstimmung mit den Fuessen, mit der wir sagen wollen, dass die Technik noch nicht so weit ist, dass unser "reales" Ich -- selbst wenn es nur in Form einer Videokonferenz bzw. sogar nur ueber die Sprache wahrnehmbar ist -- naeher an unserem Selbst dran ist, als der Avatar? Wenn ja, woran liegt das und kann man das aendern? Philip Rosedale sagte vor einiger Zeit folgendes: > However, there's a second thing about the 3D web that makes it > different than the 2D web, and is really important, which is that > there are other people there with you when you're experiencing it. Ich finde er nennt hier zwei gute Punkte, die es zu untersuchen lohnt, doch er setzt sie falsch in Verbindung: Es macht einen sehr grossen Unterschied, ob man Dinge gemeinsam erlebt, oder nicht -- auch im Web. Es geht hier um das viel beschworene "social web", das zwar heute oft in Verbindung mit Web2.0, Facebook und Co genannt wird, aber in Wirklichkeit schon vorher existierte. Das Web war schon immer "social" nutzbar, eine Eigenschaft, die es mit seinen unzaehligen Vorgaengern, Nachfolgern oder Geschwistern, sprich mit der Ursuppe des Internets teilt. Diese Unterscheidung macht sich aber nicht daran fest, ob das Web in 3d oder 2d daher kommt; beide lassen sich entsprechend nutzen. Was sich jedoch zwischen 2d und 3d extrem veraendert hat, ist die Moeglichkeit der Repraesentation und Interaktion. Wenn ich nur Text als Kommunikationsmittel/-weg zur Verfuegung habe, kann ich nur jemanden *hug* in den Arm nehmen. In einer virtuellen 3D-Welt ist der selbe Vorgang aber merklich komplexer und es muessen weitere Vorraussetzungen erfuellt sein: Zum einen muss mein Avatar ueberhaupt technisch in der Lage sein, eine entsprechende Handlung umsetzen zu koennen. Zwar ist dieser Punkt heutzutage erreicht, problematisch wird es aber, wenn es darum geht nicht nur eine oder eine bestimmte Anzahl vorgefertigter Optionen zu visualisieren, sondern die selben Freiheiten zu bieten, die auch reiner Text bietet -- im Zweifelsfall laesst sich meist deutlich mehr durch Sprache beschreiben als eine bestimmte Zahl an vorgefertigten 3D-Bewegungen. Zum anderen gilt es auch diese Bewegungen ueberhaupt erst ausloesen zu koennen. Derzeit behilft man sich hier mit Texteingaben oder der Auswahl ueber anklickbare Listen. Weder ist das besonders intuitiv, noch laesst es sich so einfach in die uebrige Steuerung integrieren. Beide dieser Punkte koennte man technisch loesen -- man denke hier nur an die Moeglichkeiten von Microsofts Kinect, das u.a. dafuer genutzt werden kann, Koeperbewegungen zu erkennen und auf einen Avatar zu uebertragen... So, damit haetten wir die Avatar-Avatar-Interaktion schonmal abgefruehstueckt, bleibt noch die Interaktion mit der Welt. Hier kommt noch erschwerend hinzu, dass ein Mensch es zwar meist dekodieren kann, was gemeint ist, wenn ein Avatar den anderen umarmt, fuer Gegensatende in dieser 3D-Welt wird das aber problematisch. Deren Erschaffer muss quasi von Anfang an festlegen, auf welche Aktionen von Avataren sie wie reagieren -- ziemlich schwierig, wenn man eben nicht wie bisher eine feste Anzahl von Optionen hat. Es mag daher nicht verwundern, wenn die Lernmoeglichkeiten, die ich bisher in SecondLife erlebt habe, alle doch sehr rezeptiv waren: Man schlaegt das 3D-Internet auf Koordinate x|y|z auf und guggt sich eben an, wie das so aussieht. Naehere Informationen gibt es meist per ellenlangen Textnachrichten oder Videoclip. Selbst die Interaktionen sind meist nicht sehr aktiv. Ich loese zwar ein Event aus, aber das laeuft dann nahezu automatisch ab. Es ist das selbe Muster wie schon erwaehnt. Ich kann zwar die Seiten im Buch umblaettern und bekommen dann weitere Informationen ueber eine Taetigkeit (bzw. die Information, dass man an diesem Ort normalerweise Taetigkeit X macht), das ganze in 3D, animiert und personalisiert, aber wirklich aktiv bin ich dabei nicht. Um wenigstens das Gefuehl von echter Interaktion aufkommen zu lassen, muesste man tiefere Ereignis-Folge-Ketten bilden, d.h. ich muss spueren, dass mein Handeln wirklich Konsequenzen hat: Licht ein, Licht aus per Schalter haut niemand um, aber wenn sich Leute beschweren, dass ich das Licht auch am Tag brennen lasse, dann ist das was anderes. Hier ist dann wieder ein Problem: So etwas laesst sich entweder ueber NPCs -- Nicht-Spieler-Charaktere, also computergesteuerte Avatare -- erreichen oder ueber "echte" Menschen. NPCs sind in SecondLife kaum vertreten und erfuellen dann nur sehr spezifische Aufgaben (Begruessung, Verkauf, Werbung..). Vielleicht ist es in SL einfach technisch zu schwer auf die unterschiedlichsten "Welt-Spieler-Ereignisse" zu reagieren und/oder den NPCs eine entsprechende kuenstliche Intelligenz einzuhauchen, vielleicht steckt aber auch die Idee dahinter, dass man die Interaktion zwischen echten Menschen foerden will, man ist ja kein "Spiel"... schade nur, dass an den wenigsten Orten entsprechend viele Menschen unterwegs sind bzw. gar technisch unterwegs sein koennen (Abstuerze); falls doch, sind diese meist nicht Teil des Settings, reagieren also nicht wirklich auf entsprechende Ereignisse. Die Konsequenz: SL wirkt tot. Es ist wie ein Buch -- von mir aus 2.0 oder gar 3.0 -- zum Anschauen, nicht zum erleben. Die bisher einzige Situation wo ich ansatzweise selbst gelernt am eigenen -- realen! -- Koeper gelernt habe, war ein Ort ueber Schizophrenie. Zwar waren auch hier die Interaktionsmoeglichkeiten nicht sonderlich gut, aber es wurde eine Stimmung erzeugt, die einen gut in die Situation eintauchen liess. Die dafuer verwendeten Werkzeuge waren aber eher klassischer, rezeptiver Natur: Es wurde versucht eine Art "Geschichte" zu erzaehlen. Zur Verbesserung koennte man sich hier Anregungen aus Buch, Film und storybasierten Spielen nehmen (wobei man dann wohl mehr NPCs braeuchte, s.o.). Oder man koennte mehr Personalisieren indem man sich z.B. die persoenlichen Daten aus Facebook schnappt und die echten Freunde, echte Eintraege der Pinnwand/des Streams einbindet; aehnlich wie http://www.takethislollipop.com/ oder andere personalisierten Videos. Da ich hier nun schon ewig schreibe, will ich mal zum Schluss kommen und etwas Struktur reinbringen. Mir scheint es vier moegliche Settings bzw. Metaphern und diverse Mischformen in SL zu geben, wobei (1) bei weitem das haeufigste zu sein scheint: 1. Out-Of-Character. SL ist ein multimediales, virtuelles Buch mit vielen Themen (Orten). Diese sind tote Materie. Interaktion mit der Welt rein zur Darstellung von "Typischem". Kommunikation mit anderen "Lesern" ueber den Ort. 2. Out-Of-Character. Der Ort richtet sich direkt an das reale Ich und versucht es auch einzubeziehen. 3. In-Setting. Man ist als PH-Student/Tourist -- repraesentiert durch den Avatar -- auf einer Exkursion. Der besuchte Ort lebt, wird aktiv genutzt. Interaktion mit Welt hat eine echte Bedeutung. Kommunikation laeuft zwischen den Touristen untereinander und den Bewohnern ab. 4. In-Setting. Jeder Ort hat ein Thema/eine Geschichte. Man ist nicht sein reales Ich, sondern der Avatar. In allen Faellen krankt es der technischen Umsetzung von Interaktion und Kommunikation. Hier bleibt zu hoffen, dass man die Bedienung vereinfacht und statt auf vorgefertigte Muster, diese bald direkt vom realen Ich uebernehmen kann, wie es z.B. mit Microsofts Kinect moeglich ist.