From: Boris Kraut Organization: Date: Sat, 25 Aug 2012 02:45:26 +0200 Category: Message-ID: <20120825004526.X6SsvT@silberbruch> Keywords: Comments: To: undisclosed-recipients: ; Subject: Stillstand (Teil2) Am Anfang des letzten Semesters, habe ich meinen studientechnischen Stillstand angeprangert und das als Antrieb genommen, etwas daran zu aendern -- wenn auch wenig, aber die Richtung stimmt. Im zweiten Teil geht es um einen -- oder doch zwei? -- eher sozialen Still- stand, der mich etwas betruebt. Auch diesmal ist das Schreiben (und in gewisser Massen auch das Schreiben allein) ein Schritt zur Ver- besserung der Situation. Bevor ich den Artikel Stillstand verfasst habe, zitierte ich Vaclav Havel mit seinem bekannten "Wahrheit und Liebe muessen siegen ueber Luege und Hass" Mantra. Es soll hier als eine Art Leitfaden dienen. Wahrheit. Die meisten duerften wissen, dass ich Wahrheit und Ehrlichkeit fuer ein sehr hohes Gut halte. Ich versuche natuerlich auch so weit es geht auch nach diesen Werten zu leben. Doch was ist eigentlich die Wahrheit? Gibt es die eine objektive Wahrheit? Vermutlich schon, aber das was Menschen gemeinhin als Wahrheit be- zeichnen, ist doch zu tiefst individuell. Es ist nicht das, was ist, sondern das, was wir "wahr"-nehmen -- und unsere Wahrnehmung ist ja bekanntlich sehr subjektiv, die Nutzung der verschiedenen Sinne ist bei den meisten Menschen ganz unterschiedlich ausgepraegt: Zu aller erst muss klar sein, dass sich die jeweiligen Sinnesorgane zwischen den Menschen in ihrer Leistungsfaehigkeit unterscheiden. Wir sind von Geburt auf anders und im Laufe des Lebens veraendert sich auch unser Koeper. Junge koennen andere Tonlagen hoeren als aeltere Leute, mancher braucht von Klein auf eine Brille und wieder andere koennen nur ganz eingeschraenkt Geschmaecke wahrnehmen. Neben diesen rein funktionalen Unterschieden, kommt es natuerlich immer darauf an, was man aus den Gegebenheiten macht: Die Sinne muessen trainiert werden, man muss lernen sie zu nutzen. Gerade wenn einem Sinne "ausfallen" versucht man haeufig diesen Verlust ueber eine aussergewoehnlich der verbleibenden zu kompensieren. Ein weiterer Punkt der Individualisierung unserer Wahrnehmung ist das Offensichtliche: Wir entscheiden selbst, wohin wir schauen, welche Klaenge wir ausblenden, auf was wir uns konzentrieren. Selbst wenn wir alle drei genannten Punkte ausblenden ist noch ein weiterer Faktor vorhanden, der unser Wahrheit zu etwas sehr persoenlichem macht: Vorwissen. Alle Informationen muessen nicht nur aufgenommen werden, sondern auch verarbeitet werden. Das ge- schieht unter massiven zur Hilfenahme durch das bereits Erlebte, Erlernte oder auch Vermutete. Und diese Intepretation von Daten ist es, die es uns so schwer macht eine objektive Wahrheit zu finden. Hier ist noch ein weiterer Punkt von Einfluss: Unser Gehirn ist nicht verlaesslich, wir koennen uns selbst nicht trauen! Nicht nur, dass wir zwangslaeufig vergessen, nein, sowohl neue Reize wie auch vergangene Ereignisse werden umgestaltet, verworfen oder ignoriert. Unterbewusst ist man staendig damit beschaeftigt, alles in einem fuer einen selbst plausiblen und positiven Rahmen zu zwaengen (siehe. kognitive Dissonanz). Passt eine frische Information nicht zum eigenen Weltbild? Sie muss ja entweder falsch sein, wird also einfach vergessen und verdraengt, oder es ist gar eine absichtliche Luege. Warum luegt der andere? [...] Was eigentlich eine Schutzfunktion sein soll (und ist), kann auch sehr negative Folgen fuer uns haben und das Zusammen- leben unnoetig erschweren. Gerade das einordnen in einen kausalen Zusammenhang, also weg von der Sacheben hin zur Frage, warum mein Gegebueber so handelt und nicht anders, ist kaum zu loesen. Es gibt zwar Anhaltspunkte oder man kann teilweise auf Erfahrungswerte zurueckgreifen, gerade wenn man eine Person laenger kennt, aber defacto haben wir keine Moeglichkeit zu "wissen", wir koennen nur vermuten und erahnen. Das ganze ist ein hyperkomplexes System mit vielen Unbekannten die sich noch gegenseitig bedingen. Wir koennen nicht objektiv wahrnehmen. Ich selbst versuche mit diesem Widerspruch so gut es geht zu leben und trotzdem die Wahrheit als Wert hochzuhalten. Manchmal hat das negative Folgen, weil man zwangslaeufig direkter wird und viele Menschen shclecht mit Direktheit umgehen koennen bzw. sie es nicht gewohnt sind. Man gilt als unfreundlich, weil man sich an die sozialen Regeln der Gesellschaft haelt. Sowas sagt man doch nicht! Luege. Aber ganz egal, wie sehr man sich bemueht, man schafft es nicht komplett danach zu leben. Und auch wenn "die Wahrheit" fuer uns Menschen gar nicht feststellbar ist, so schafft man es nicht mal nach seiner eigenen, ganz persoenlichen Wahrheit zu leben. Man luegt so oft, mehrmals am Tag -- im Durchschnitt luegt jeder Mensch wohl ca. 200 Mal am Tag. Viele davon sind natuerlich unbewusste Luegen, kleine "Notluegen" oder sozial anerkannte Luegen aus Hoeflichkeit (vgl. Direktheit), aber auch richtig dicke Klopper sind dabei. Ich selbst versuche Luegen zwar zu vermeiden oder zumindest im Nachhinein klarzustellen bzw. zu korrigieren -- auch wenn es haeufig peinlich ist -- aber das ist gerade bei den kleinen Alltagsluegen nicht besonders erfolgsversprechend. Ruft man zurueck, wenn man sich mal wieder an der Tuer ode ram Telefon verleugnen lassen hat? Wie sieht das im Chat aus, wenn man sich mal wieder afk meldet, um nicht (von bestimmten Personen) genervt zu werden, aber gleichzeitg mit anderen schreibt? Im letzteren Fall waere die Alternativ lieber nichts zu sagen und das "Nichtssagen" ist auch in der echten Welt eine Moeglichkeit, um einer Luege aus dem Weg zu gehen. Aber ist es wirklich besser? Waere eine ehrlich, aber ggf. abweisende Antwort nicht fuer einen selbst (und auch fuer die Gesellschaft) am besten und wertvollsten? Das Problem von Luegen sind ihre nicht kalkulierbaren Folgen. Nicht nur, dass andere dann aufgrund der Unwahrheit falsche Entscheidungen treffen, auch man selbst wird ja von diesen Entscheidungen weiter beeinflusst und verfolgt. Und gerade diese Rueckbezuege sind sehr gefaehrlich, da man ja dort immer im Kontext der Luege denken und handeln muss, um konsistent zu bleiben. Dabei faellt sowohl das aktive Erinnern an die jeweilige Luege (und deren Wortlaut) schwer, denn das muss ja zusaetzlich zur "Wahrheit" passieren. Zudem ist das sichere Bewegen im Kontext einer Luege extrem anfaellig: Man wird haeufig dazu genoetigt schnell Antworten zu muessen, was meist durch eine neue Folgeluege passiert -- es ist also eine Art Schnee- ballsystem. Ausserdem muss man nicht nur aufpassen, in welchem Kontext man sich selbst bewegt, sondern auch in welchem die Um- welt gerade ist. Besonders gefaehrlich ist es, wenn sich die Kon- texte ueberschneiden, wenn also zum Beispiel Personengruppen (zu- faellig) ueberschneiden. Ein weiteres Problem bei Luegen ist, dass man sich teilweise so in eigene Luegenwelt hineinversetzt, dass man diese selbst anfaengt zu glauben. Wie oben beschrieben, ist das Gehirn gerne bereit die Informationen, die nicht in das Weltbild passen, zu ignorieren oder sehr rkeativ in dieses zu integrieren. Dabei kann dieses Weltbild durchaus auch auf einer oder mehreren Luegen aufgebaut sein. Diese Art der Realitaetsverweigerung kann von simplen Notkunstrukten, die dazu dienen sich und sein Leben vor sich selbst zu rechtfertigen bzw. angenhemer zu machen, bis hinzu einer krankhfaten Stoerung reichen. In meinem konkreten Fall geht es nicht um die vielen Alltagsluegen, sondern um eine fuer andere unbedeutende, aber fuer mich selbst um so relevantere Fundamentalluege. Liebe. Ueber Liebe habe ich ja schon an anderer Stelle geschrieben, von daher beschraenke ich mich hier auf einen einzigen, persoenlichen Aspekt -- Liebe und Luege: Ich bin 27 Jahre. Jungfrau. Ungekuesst. Ich hoere schon den Aufschrei, aber fuer mich ist das an sich kein Problem. Was mich wirklich bedrueckt ist der fehlende -- bzw. sehr eingeschraenkte -- soziale Kontakt. Daran arbeite ich, an mir arbeite ich. Woran ich aber nicht mehr arbeiten wollte und konnte waren die anderen: Wer kennt es denn nicht? Die bohrenden Fragen auf dem Familien- fest. Das Getuschel ueber schwul oder asexuell. Es hat mir ge- reicht, schon damals in der Schule. Wisst ihr wie schwer es ist die Pubertaet (die iegene war nicht so schlimm, eher die der anderen!) durchzumachen ohne eine Freundin? Waehrend alle anderen von ihren ersten Erfahrungen erzaehlen und rumproleten, von Liebe schwafeln und dabei Verliebtheit und Sex meinen, ist man immer nur zu hoerer. Nicht dass ich mich mit einer Freundin grossartig anders verhalten haette, es gibt einfach Dinge, die man nicht unbedingt in der Oeffentlichkeit kommunizieren muss -- dass ich das hier gerade schreibe, ist "schlimm" genug, aber ein Weg mit der Vergangenheit aufzuraeumen, Klarschiff zu machen. Auch das Studium oder die Arbeit -- gerade in einem doch sehr maenner- lastigen Beruf mit all seinen Schwanzvergleichen, sexuell- anzueglichen Kommentaren usw. -- machen in einer so hoch- sexualisierten Gesellschaft als AB, Absoluter Beginner bzw. Mensch ohne Beziehungserfahrung, wie einige "von uns" sich nennen, wenig Spass. Man beginnt Ausreden zu erfinden, stellt normale Kontakte ueber- hoeht, Hoffnungen und Wuensche als Fakt dar. Das Gehirn schafft sich eine Welt aus Luegen und erklaert sie vor sich selbst und anderen als Wahrheit. Man will einfach nicht weiter ausserhalb stehen. Es tut mir Leid. Wie gesagt, die Belastung ist weniger das koerperliche, sondern eher das soziale. Niemanden zu finden, der mich versteht oder der mich aufbaut, in den Arm nimmt, unterstuetzt, eben genau dann, wenn er mich nicht versteht oder zumindest nicht meine Meinung teilt. Ich denke damit ist hier genug, wahrscheinlich sogar zu viel, gesagt. Alles weitere gehoert nicht in diesen Kontext. Hass. Zum Hass kann ich am wenigsten sagen, denn entgegen des allgemeinen Sprachgebrauchs, der haeufig von "Hass" spricht, hat man -- oder zumindest ich -- es meist eher mit ungerichteter Wut oder ziel- gerichtetem Zorn zu tun. Echten Hass habe ich selten. Es gibt viele Dinge die mir nicht passen, Menschen die komplett entgegengesetzte Werte vertreten, ja, die ich sogar verachte und verabscheue. Aber Hass? Nein, nicht wirklich. Wenn ich an den arabischen Raum denke, wenn ich an Fundamentalisten, an Extremisten denke, da kommt der Hass dann eher ins Spiel, aber da man davon nicht direkt und taeg- lich betroffen ist, entwickelt sich der Hass nicht.. wollen wir hoffen, dass es nicht auch hier bald mehr Grund fuer Hass gibt. Worum ging es hier also? Den Stillstand auf dem Gebiet der "Wahr- heit" bzw. "Luege" habe ich jetzt hoffentlich hier durchbrochen. Mit der Offenlegung der letzten "grossen Luege" will ich auch gleich einen weiteren Anlauf nehmen, generell wieder etwas direkter zu werden: Nachdem ich eine Zeit lang versucht habe, mich etwas den "sozialen Regeln" anzupassen oder sie zumindest heraus zu finden, werde ich ab jetzt langsam wieder auf das alte Konzept umsatteln, Probleme und Wuensche direkt zu kommunizieren. Der zweite Stillstand, also der im Bereich von sozialer Inter- aktion bzw. gar Berziehung ist weniger einfach zu aendern, aber ich werde auch hier nicht aufgeben und weiterhin meinen Weg gehen.