From: Boris Kraut Date: Sun, 11 Nov 2012 15:47:13 +0100 Category: Message-ID: <20121111154713.53wy4r@silberbruch> Organization: Keywords: Comments: To: undisclosed-recipients: ; Subject: [.plan] Werkzeugbegriff (was: Grundfragen Multimedialen Lehrens und Lernens 2012) Anfang des Jahres war ich ja auf der GML2012 und habe dort einen Vortrag ueber den "Werkzeugbegriff" gehalten. Das ganze habe ich natuerlich auch hier im Blog erwaehnt -- mit dem Hinweis, dass ich Folien und Zusammenfassung dann im Wiki online stelle. Das ist natuerlich passiert, aber eigentlich wollte ich den Text auch nochmal hier gepostet haben, was ich jetzt nachhole: Freie Bildung: Web2.0-Tools als Tueroeffner fuer die Wirtschaft Boris Kraut, Entropia e.V., kraut@entropia.de Zusammenfassung Flickr, Prezi, Mixxt, Twitter, oder Facebook -- das ganze natuerlich per iPad. Wir haben uns bereits die moderne Wunderwelt der so genannten Web2.0-Tools zu Nutze gemacht; die Vorteile und Moeglichkeiten sind ueberwaeltigend. Doch kann man sie wirklich bedenkenlos im Bereich der Bildung -- insbesondere der Schule -- einsetzen? Sind diese Dienste wirklich nur "Tools", also reine Werkzeuge, oder doch eher gefaehrliche Lockangebote? Wie steht es um das verstaerkte Engagement von grossen IT-Konzernen z.B. auf dem Schulbuchmarkt? Ausgehend von den Erfahrungen waehrend des Studiums an der Paedagogischen Hochschule Karlsruhe und der langjaehrigen Taetigkeit im Rahmen des Projekts "Chaos macht Schule" [0] des Chaos Computer Clubs soll dieser Bericht als eine Art Warnung vor einem unkritischen Umgang der Paedagogen -- und in Folge auch der Kinder -- mit Hard- und Software sein. Zudem dient er der Vorueberlegung, wie und ob das Thema fuer eine moegliche wissenschaftliche Ausarbeitung dienen kann. 1. Was ist ein Werkzeug? Jede wissenschaftliche Disziplin hat ihre eigene Fachsprache. Es laesst sich daher nicht vermeiden, dass es zu begrifflichen Unklarheiten kommt, wenn zwei Fachgebiete -- hier die Informatik und die Paedagogik -- zusammentreffen. Im vorliegenden Fall reicht allerdings ein grobes Alltagsverstaendnis aus, um die obige Frage zu klaeren. Sie laesst sich leicht mit einem Beispiel beantworten: Ein Hammer ist ein Werkzeug. Einen Hammer zeichnen einige interessante Eigenschaften aus. Er eignet sich hervorragend um Naegel in ein Brett zu schlagen, aber zum Saegen ist er ungeeignet. Wenn man also eine Holzhuette bauen will, benoetigt man mehrere unterschiedliche Werkzeuge. Gluecklicherweise braucht man meist jeweils nur ein Werkzeug einer Sorte, denn ein Hammer verschwindet -- bis auf Verschleiss -- nicht einfach, er veraendert den Ausgangsstoff, wird nicht Teil des Ergebnis, des Produkts. Das Produkt ist daher auch unabhaengig vom Werkzeug, d.h. der Nagel faellt nicht aus dem Brett, wenn der Hammer beispielsweise verloren wird. Zu guter Letzt muss ein Werkzeug immer benutzt werden. Ein Hammer macht nichts von sich aus; weder aendert er sich selbst, noch die Produkte ohne einen initialen Anstoss von aussen. Diese grundlegenden Eigenschaften finden sich auch bei Softwarewerkzeugen/-tools. Programme werden teilweise explizit nach diesem alltaeglichen Werkzeugbegriff modelliert. So schreibt Douglas McIlroy [1] beispielsweise: > This is the Unix philosophy: Write programs that do one thing and > do it well. Write programs to work together. Write programs to > handle text streams, because that is a universal interface. Rueckuebersetzt in das Alltagsverstaendnis bedeutet das, dass Werkzeuge genau eine Aufgabe erledigen sollen, eben die, fuer die sie geschaffen wurden. Ist die Aufgabe groesser, so braucht man mehrere Werkzeuge, die reibungslos zusammenarbeiten. Um das zu garantieren benoetigt man eine "universelle Schnittstelle". Hier ist die Analogie problematisch, weshalb zum besseren Verstaendnis folgende Gedanken wichtig sind: - Nach der Anwendung eines Werkzeugs kann das Produkt fertig sein oder weiterverarbeitet werden. - Nach der Verarbeitung bestehen keine Abhaengigkeiten zwischen dem Produkt und dem genutzten Werkzeug, d.h. eine Aenderung am Werkzeug hat keine Auswirkungen mehr auf das schon verarbeitete Produkt. - Die Funktion von Werkzeugen bleibt gleich, es sei denn sie wird aktiv geaendert. Zusammenfassend lassen sich also u.a. folgende Merkmale sowohl im Alltagsgebrauch, wie auch bei Programmen festhalten: - Spezialisierung auf eine Aufgabe - moegliche Weiterverarbeitung des Produkts - Produkt und Werkzeug sind nach der Verarbeitung unabhaengig. - Das Werkzeug wird nicht verbraucht. - Werkzeug veraendert sich nicht unbeabsichtigt. - Verwendungszweck ist nicht vorbestimmt. - Aktivierung durch den Nutzer 2. Warum sind viele Web2.0-Tools keine Werkzeuge? Wenn Trent Batson [2] die Frage stellt, ob ein Auto ein Werkzeug ist, ist die Antwort eigentlich klar: Ein Gabelstapler mag als Werkzeug gelten, aber ein eigenes Auto ist viel mehr: Es steht fuer Mobilitaet und Unabhaengigkeit. Ihm geht es nicht um die Technik, sondern um deren Bedeutung und Nutzen. Analog argumentiert er im Rahmen von ePortfolios, dass diese ebenfalls kein "Tool" sind, sondern fuer viel mehr stehen. Auch aus einem weiteren Grund ist der Werkzeugbegriff fuer ePortfolios problematisch. Fuer Paedagogen ist zwar in erster Linie die Verwendung der Technik in einem Lehr-Lern-Kontext und die daraus resultierenden Ergebnisse interessant, doch darf die darunter liegende technische Schicht nicht ausgeklammert werden -- erst dort kann man naemlich das eigentliche Werkzeug verorten. Laesst man diese tieferen Schichten zu, faechert sich der Begriff des ePortfolios weiter auf. Da eine scharfe Trennung der Begrifflichkeiten kaum moeglich ist, folgt der Versuch einer Begriffsklaerung anhand einer Beispielgeschichte: John Doe hat von ePortfolios gehoert und will sie selbst in Form eines Blogs ausprobieren. Er entscheidet sich daher fuer einen der vielen kostenlosen Anbieter und erstellt sich ein Weblog bei wordpress.com. Hinter diesem Angebot steht das Unternehmen Automattic. Die eingesetzte Software heisst ebenfalls Wordpress; man kann sie sogar kostenlos unter einer freien Lizenz auf wordpress.org herunterladen. Blog beschreibt hier die uebergeordnete Kategorie, die grundlegende technische Idee. Die eigentliche Software ist eine Implementierung dieser Idee, sie ist im technischen Sinne die Anwendung bzw. Application. Die eigentliche Anwendung der Technik, also im Sinne eines Einsatzzwecks, ist das ePortfolio. Die Technik wird in diesem Beispiel von einem Unternehmen als eine Dienstleistung angeboten. Hier geschieht das in der Basisversion kostenlos, aber prinzipiell ist jedes Geschaeftsmodell denkbar. Blog: Idee, Begriff, Technik Wordpress-Software: Implementierung (IT: Anwendung) ePortfolio: Anwendung, Sinn, Nutzung, Einsatzzweck Wordpress.com: Service Automattic: Unternehmen Der Werkzeugbegriff taucht hier gar nicht auf; er laesst sich am ehesten noch fuer die konkrete Software-Implementation verwenden. Diese kann man als eine fuer einen Einsatzzweck gerichtete Buendelung von Tools auffassen -- im Gegensatz zu einzelnen Tools, die zwar eine bestimmte Arbeit erledigen, deren Einsatzzweck allerdings nicht vorbestimmt ist. 3. Problem des Werkzeugbegriffs im Bereich der Bildung Der Toolbegriff verbirgt Komplexitaet, was durchaus legitim sein kann. Problematisch wird es allerdings dann, wenn diese Vereinfachung das kritische Hinterfragen rein auf die Funktion einengt. Gerade da die meisten "Tools" in Wirklichkeit Dienstleistungen eines Unternehmens sind und meist komplexe AGB und Datenschutzbestimmungen mit sich bringen, lohnt es sich hier genauer hinzusehen: Viele der Angebote sind in einer Basisversion kostenlos verfuegbar, bieten allerdings auch kostenpflichtige Premiumdienste an. Koennen diese die laufenden Kosten fuer die vielen nicht zahlenden Nutzer wirklich decken? Wenn nein, wie finanziert sich der Dienst? Werbung? Nutzeranalyse? Ein weiteres Themenfeld ist die Kontrolle ueber die Inhalte. Wer erstellt sie und sind sie wirklich verlaesslich bzw. vertrauenswuerdig? Was passiert mit eigenen Inhalten, die man beim jeweiligen Dienst einstellt? Darf der Betreiber diese verwenden, sie ohne Ankuendigung loeschen oder sie gar verkaufen? In der heutigen Zeit geht man meist von staendiger Verfuegbarkeit der Dienste aus, doch selbst groesser Anbieter haben durchaus Probleme diese zu gewaehrleisten [3]. Und was ist, wenn der Betreiber aufgekauft wird, bankrott geht oder schlicht seinen kostenfreien Zugang einstellt? Fuer die letzteren Faelle sollte man vorgesorgt haben und die benoetigten Daten regelmaessig lokal abspeichern. Doch kann man das ueberhaupt? Bekommt man diese nur in einem proprietaeren Format, das nur der Anbieter lesen kann? Oder erhaelt man nur die jeweiligen Endprodukte und muss beim Export auf die Rohdaten verzichten? Das koennte zu einem Vendor-Lock-In fuehren, also der ungewollten Bindung an einen Anbieter, da man die Daten ggf. nach langer Nutzung nicht zu einem anderen Anbieter mitnehmen kann. Aber gibt es ueberhaupt Alternativen? Wo liegen deren Staerken und Schwaechen? Vergleichen lohnt sich! Dies sollen nur einige der Fragen sein, die man sich bei einer wirklichen kritischen Betrachtung stellen sollte und die sich bei der Vorstellung dieser Dienste als "Tool" gar nicht aufkommen. Es ist wichtig, dass man jetzt nicht im Umkehrschluss alle dieser Dienste verteufelt. Es geht um eine sachgemaesse Ueberpruefung und Einordnung. Dafuer ist zudem noch ein weiterer Punkt essentiell: Es gilt zu klaeren, wer die Angebote nutzen soll. Wenn man als Privatperson sich fuer den einen oder anderen Dienst entscheidet, ist das groesstenteils unproblematisch. Doch schon wenn die Nutzung als Lehrperson, d.h. im Rahmen von Lehrveranstaltungen, erfolgt, gibt es weitere zu klaerende Fragen: Welchen Einfluss hat die eigene Auswahl auf die Lernenden? Kann es als Werbung missverstanden werden? Sollen die Lernenden gar selbst aktiv werden wird es noch problematischer. Da Schule nicht optional ist, kann es hier schnell passieren, dass man die Lernenden zur Nutzung -- und damit zur Zustimmung zu AGB und Datenschutzbestimmungen -- noetigt. Unter dem Deckmantel des Toolbegriffs verbreitet sich zunehmend Soft- und Hardware im Bildungsbereich, deren AGB und Lizenzen nur selten gelesen und verstanden werden. Es muss daher genau beobachtet werden, ob und wie privatwirtschaftliche Unternehmen dies zur Einflussnahme auf Inhalte nutzen oder sich eine Abhaengigkeit von einzelnen Anbietern ergibt. 4. Fazit Der Werkzeugbegriff ist meist unpassend und verharmlosend, weil damit die heutige Hard- und Softwarewelt rein auf die Funktion und den momentanen Nutzwert reduziert wird. Damit werden viele Fragen ausgeblendet, die fuer eine kritische Reflexion noetig sind. Erst wenn Funktionen und -- nicht nur monetaere -- Kosten gegeneinander abgewogen wurden, kann man die Entscheidung darueber treffen, ob der private Einsatz, der Einsatz als Lehrperson oder gar der Einsatz durch Schulpflichtige zu rechtfertigen ist. Referenzen [0] https://ccc.de/schule [1] http://www.faqs.org/docs/artu/apb.html [2] http://www.aaeebl.org/tbb?mode=PostView&bmi=746168 [3] http://money.cnn.com/2011/04/22/technology/amazon_ec2_cloud_outage/index.htm Vita Boris Kraut ist Student an der Paedagogischen Hochschule Karlsruhe. Er ist Mitglied im Entropia e.V. (CCC Karlsruhe) und engagiert sich dort im Rahmen des Projekts "Chaos macht Schule" an Schulen und in der Lehrerbildung.