Zerstoertes Kind
authorBoris Kraut <krt@nurfuerspam.de>
Mon, 13 Jul 2015 02:13:57 +0000 (04:13 +0200)
committerBoris Kraut <krt@nurfuerspam.de>
Mon, 13 Jul 2015 02:13:57 +0000 (04:13 +0200)
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+From: Boris Kraut <krt@nurfuerspam.de>
+To: undisclosed-recipients: ;
+Date: Mon, 13 Jul 2015 04:13:54 +0200
+Message-ID: <20150713041354.BH8XvJ@edupad.local>
+Reply-To: Boris Kraut <krt@nurfuerspam.de>
+Subject: [.plan] Zerstoertes Kind
+
+"Zerstoertes Kind" -- was fuer ein Ausdruck. Nicht gerade das, was man sich
+wuenscht von seinen Eltern zu hoeren, doch ich mag ihn. Mein "Ich" liegt in
+Truemmern. Der Ausdruck beschreibt relativ nuechtern diese Lage und geht
+dabei nicht auf moegliche Ursachen ein. Ein klarer Vorteil, wenn man die
+Alternativen a la "gestoert" dagegensetzt, was -- zumindest im heutigen
+Sprachgebrauch -- den Fokus doch sehr auf die Person selbst: Das Kind ist
+gestoert bzw. es verhaelt sich gestoert. Auch wenn diese Stoerung einen
+anderen Ursprung hat, ist es doch das Kind das einen Teil der Schuld traegt
+oder tragen kann. Diese Schuld kann es aber nur deshalb tragen, weil es
+ueberhaupt noch in der Lage ist, aktiv zu handeln. Vielleicht nur "um die
+Stoerung herum", nicht "normal", aber dennoch selbst handelnd. Ich bin das
+nicht. Nicht mehr. Ich bin passiv. Ausgebombt. Ausgebrannt. Zerstoert. Im
+wahrsten Sinne des Wortes "des Lebens muede": Am liebsten wuerde ich nur
+noch schlafen. Und obwohl ich muede bin, kann ich diese Ruhe nicht finden,
+zu sehr halten mich meine Gedanken wach. Kreisen immer nur um die selben
+Fragen:
+
+Warum das alles? Ich war nie der mit dem grossen Lebensplan, nie der aktivste,
+nie der extrovertierteste, aber ich hatte Dinge, die mir Freude machten. Ich
+konnte mich begeistern, auch wenn das von aussen eher schwer zu erkennen war.
+Und jetzt? Die letzte "Freude" ist zu lang her. Kein Platz mehr, keine Zeit
+mehr, keine Motivation mehr. Stattdessen ein Job anstelle der Berufung und ein
+Studium ohne "studere", ohne "sich eifrig bemuehen" -- die Muehen und das Be-
+muehen sind wohl da, aber der Eifer fehlt: da ist keine Gier nach Wissen, kein
+Brennen fuer Neues.. auf beiden Seiten des Pultes. Anstatt Freude und Freiheit,
+Qual, Beschraenktheit und Zwang. Immer wieder Zwang. Dabei sind es nicht nur
+die aeusseren Umstaende oder andere Personen, die diesen Zwang ausueben, nein,
+ich bin es zu einem Grossteil selbst. Doch ist es nicht die Selbstbeherrschung,
+das Herr ueber sich selbst sein, da mich mich selbst zwingen laesst. Es ist
+Angst. Angst zu versagen, den Anforderungen dieser Gesellschaft nicht gewachsen
+zu sein, Existenzangst -- denn die Gesellschaft duldet keine Schwachen.. und
+Staerke, "Leistung", misst sie in den absurdesten Tests und Aufgaben: Schnelles
+Auskotzen von gehorsam runtergewuergtem "Wissen" -- eben "Arbeit pro Zeit",
+Konformitaet und ungeschriebene Gesetze; alles Dinge, in denen ich nicht gut
+bin.. insbesondere wenn man unter staendiger Beobachtung steht. Und das sich
+Dinge allein durch das Beobachten veraendern, das sollte auch denjenigen
+einleuchten, die Leistungsnachweise in der Bildung ueber die o.g. bescheuerte
+Analogie zur Physik definieren.
+
+Aber nicht nur "Bildung und Beruf" haben gelitten, sind zu "Ausbildung und Job"
+pervertiert. Nein, auch das Soziale ist vergiftet von Scoring und Tests, von
+Leistungsnachweisen fuer die ich mich nicht optimiert habe -- an anderer Stelle
+habe ich schon viel zu viel darueber geschrieben. Es bleibt also nur die
+Einsicht:
+
+Nein, ich kann in dieser Welt/Gesellschaft nicht leben. So weit scheint die
+Sache klar zu sein. Doch was fange ich mit dieser Einsicht an? Prinzipiell
+gibt es da drei moegliche Punkte, an denen man ansetzen koennte:
+
+
+1) "Ich" aendern.
+
+Wenn man nicht passt, dann wird man schon passend gemacht bzw. die Umstaende
+sind so, dass man eben genau auf diese Idee kommt, sich selbst zu aendern.
+Viele Hacker scheinen hier haeufig einen erschreckend rationalen Ansatz zu
+waehlen: Sie wissen, dass das Problem zwischen Ihnen und der Gesellschaft ist,
+arbeiten ggf. langfristig daran, die Gesellschaft zu aendern, aber haben kein
+Problem damit kurzfristig auch an sich selbst zu optimieren. Sie versuchen den
+Koerper zu verstehen, das Problem medizinisch zu verorten und zu klaeren, wie
+welche Substanzen -- Medikamente, Drogen, freierhaeltliche Stoffe (und sei es
+nur Koffein) -- wirken und fuer eine Verbesserung eingesetzt werden koennen.
+
+Etwas weniger durchdacht, etwas weniger geplant, aber im Grunde ein aehnlicher
+Mechanismus ist auch bei "normalen" Menschen zu beobachten. Volksdrogen a la
+Alkohol, Nikotin, Aufputsch-, Schmerz- oder leistungssteigernde Mittel sind
+weit verbreitet. Jeder stellt sich seinen persoenlichen Cocktail zum Glueck-
+lichsein zusammen: Erst was um die Leistung zu bringen, dann ein paar Pillen
+um Abzufeiern, und aufkommende Zweifel (wie ich sie gerade habe) betaeubt man
+dann mit Medikamenten oder spuelt das ganze Elend lieber gleich mit Alkohol
+runter.. oder beides.
+
+Ich war oft genug an solchen Punkten und kam immer zum selben Schluss: Ich
+will das nicht. Ich moechte so sein, wie ich bin. Und mit meinem eigenen
+Selbst moechte ich ein einigermassen zufriedenes (glueckliches?) Leben
+fuehren. Ich bin anders, ja, aber ich brauche keine Medikamente: Ich bin nicht
+krank!
+
+Was ist das fuer eine Gesellschaft, in der es als normal gilt, das ein
+Grossteil der Menschen nur unter Drogen "funktioniert", weil sie nicht
+"stark" genug sind, die Leistung zu bringen, die eingefordert wird? Will
+man in so einer Gesellschaft leben?
+
+
+2) "Gesellschaft" aendern.
+
+Der zweite Ansatzpunkt ist es eben die "Schuld" nicht bei sich zu ver-
+orten, sondern an der Gesellschaft. Ich bin nicht krank aus mir selbst
+heraus, sondern weil mich die Gesellschaft krank macht. Doch auch hier
+gibt es mehrere Handlungsoptionen. Bisher habe ich sehr viel Zeit und
+Kraft investiert, um die Gesellschaft, die Menschen zu aendern -- mit
+nur maessigem Erfolg. Alles was ich hier bewirkt habe sind entweder
+Tropfen auf einem heissen Stein und/oder ich werde die Resultate meiner
+Arbeit erst sehr viel spaeter erleben. Das ist gut fuer die, die nach
+mir kommen, aber hilft mir in meiner aktuellen Situation eher weniger.
+Von daher ist die Reaktion vieler Hacker (s.o.) durchaus nachvollziehbar:
+Ja, wir wollen die Gesellschaft aendern, aber das braucht Zeit. Zeit in
+der wir uns erstmal selbst schuetzen muessen, in der wir in der momentanen
+Gesellschaft (ueber)leben und bestehen muessen. Also fixen wir das eben
+mit Technik und Medikamenten.. ein Weg den ich nicht gehen kann.
+
+Die alternative Option ist, nicht die momentane Gesellschaft zu veraendern,
+sondern sich in eine bessere Gesellschaft zu begeben. Gar nicht so leicht,
+denn ich wuesste nicht, wohin ich sonst gehen sollte. Da bleibt dann nur
+die kaetzerische Frage: Wo sind eigentlich die Cyber-Kloester? Nicht die
+strenge Struktur und Hierarchie, aber der Rueckzugsort fuer diejenigen, die
+zwar nicht ganz die Gesellschaft wechseln wollen, die durchaus noch fuer
+sie und an ihr arbeiten wollen, die mit ihr -- aber nicht in ihr -- leben
+wollen, fuer diejenigen, die eingesehen haben, dass sie niemals Teil der-
+selben sein koennen -- ganz unabhaengig davon, ob man selbst nicht akzeptiert
+oder nicht akzeptiert wird --, aber auch nirgends anders dazugehoeren. Ein
+Zimmer in das man sich einschliessen ("claustrum") kann, in dem man selbst
+sein kann, das man aber bei Bedarf oeffnen kann? Zahlt mir mein genuegsames
+Leben und ich geb euch freie Software und Vortaege? Waere das nichts?
+
+
+3) "Nicht leben".
+
+Ist das wirklich eine Option? Wenn ja, macht sie mir Angst. Ueber das eigene
+Ende, ja das aktive Beenden nachzudenken, ist unangenehm. Gerade weil mir beim
+Schreiben eine weitere Frage immer praesenter wird: Was ist, wenn diese drei
+Handlungsoptionen gar keine gleichberechtigten Moeglichkeiten sind, sondern
+eine schneller oder langsamer ablaufende Abfolge von Phasen? Bleibt mir nach
+(2) also nur noch der Tod? Seriously? Eigentlich wollte ich hier noch einiger
+anderes schreiben, doch der jetzige Gedanke ist noch zu erschreckend und zu
+frisch. Ich kann weder meinen "geplanten" Text zu Ende bringen als sei nichts
+gewesen, noch kann ich das neue gleich verarbeiten. Interessanterweise war es
+Angst, die mich zu diesen Ueberlegungen gefuehrt hat.. und am Ende bin ich
+wieder bei der Angst. Limitiert sie also nicht nur mein Sein, sondern auch das
+Nicht-Sein? Ist sie Schutz und Buerde zu gleich? Ist eine Welt, ein Leben ohne
+Angst ueberhaupt moeglich? Faellt mit der Angst vor dem Leben auch die Angst
+vor dem Tod? Ich bin verwirrt.
+
+Es ist spaet.
+Ich bin tief traurig..
+..und ich habe Angst.